Fotografie im Hausarzt-Alltag „Kraft-Ausdrücke“

Wie kommt man dazu, in der Hausarztpraxis zu fotografieren? In einem ausführlichen Artikel im Jahr 1996 in dieser Zeitschrift hatte ich bereits berichtet, dass das mit meinem Vater und Praxisvorgänger zu tun hatte. Nachdem ich 1982 die Praxis von ihm übernommen hatte, kam mir der Gedanke, ihm zu Weihnachten einen Portrait-Kalender von seinen langjährigen, alten Patienten zu gestalten. Insgesamt wurden in den nächsten Jahren dann drei Kalender daraus.
Die Idee war geboren und entwickelte sich über 30 Jahre immer weiter. Zunächst ist es natürlich naheliegend, Fotografie in der Praxis zu Dokumentationszwecken von akuten oder chronischen Wunden bzw. deren Heilungsverlauf einzusetzen. Auch das Festhalten von typischen oder ausgefallenen Hautveränderungen macht Sinn. Außerdem kann im Zeitalter von Telemedizin der Austausch fotografischer Befunde zwischen Kollegen verschiedener Fachrichtungen zur diagnostischen Klärung und damit zum Wohle der Patienten eingesetzt werden. Dieser Aspekt wird sicher in Zukunft eine noch stärkere Rolle spielen.
Erinnerungen
Spaß gemacht hat es auch, ausgefallene oder skurrile Situationen und Befunde festzuhalten und sich später daran mit einem Schmunzeln zu erinnern. Fotos sind immer auch Auslöser von Erinnerung.
Auch für die Patienten selbst oder deren Angehörige waren die Abzüge, die sie als "Dankeschön" bekamen, gern gesehene Erinnerungsstücke. Ich kenne auch einen Kollegen, der solche Erinnerungsfotos als Grußpostkarten zu Geburtstagen oder anderen Jubiläen der Patienten an diese verschickt.
Mehr als trockenes Lehrbuchwissen
Auch während meiner fünfzehnjährigen Tätigkeit als Lehrbeauftragter für Allgemeinmedizin an der Universität Marburg sowie als Weiterbilder für Allgemeinmedizin bei den Landesärztekammern Hessen und Schleswig-Holstein war meine Fotosammlung aus dem Praxisalltag eine tolle Fundgrube. Anhand eines typischen Erythema migrans die komplexe Problematik der Borreliose zu entwickeln oder die Studenten bzw. Weiterzubildenden in Blickdiagnostik zu schulen macht einfach mehr Spaß und ist sicher nachhaltiger, als trockenes Lehrbuchwissen zu dozieren. Nach dem Sturz einer alten Dame auf dem Sofa ihre Unterschenkel zu fotografieren, bei denen ein Fuß deutlich außenrotiert und das dazugehörige Bein insgesamt kürzer ist – mit der Bitte um eine Blickdiagnose – bleibt sicher besser im Gedächtnis haften als die sprachliche Vermittlung dieses Zustands. Auch bei anderweitigen Fortbildungen oder Kongressen bzw. bei Veröffentlichungen in Fachzeitschriften erzeugen Bilder aus dem hausärztlichen Praxisalltag mit typischen Situationen der Lebensräume unserer Patienten im dörflichen und sonstigen sozialen Umfeld eine entsprechende Atmosphäre und machen die Sache damit "saftig", wie ich das gerne nenne.
Alt und Jung
Das ursprüngliche Motiv der Portraitaufnahmen entwickelte sich mit der Zeit weiter und fast alle angesprochenen potentiellen Modelle stimmten zu. Nach und nach entstanden Ideen für thematische Fotoarbeiten. Als erstes Thema wählte ich "Kindheit von Geburt bis Pubertät" – für jedes Lebensjahr ein typisches Kinderportrait. Über ein Jahr lang fotografierte ich aus dem Fundus der Praxis heraus wie auch aus dem Familien- und Freundeskreis. Diese Bilderreihen waren auch die ersten, die in unserem Wartezimmer und in der Anmeldung gezeigt wurden. Zuvor hatten wir bereits die schönsten Abzüge von einer Reise nach Indisch-Tibet im Jahr 1998 zusammen mit dem dazugehörigen Reisetagebuch meiner Frau in der Praxis ausgestellt. Manche Patienten bedauerten damals die kurze Wartezeit in unserer Praxis, da sie gar nicht genug Zeit gehabt hätten, das ganze Tagebuch zu lesen. Auch der örtliche Fotoklub sowie lokale Hobbykünstler nutzten gern die Möglichkeiten, sich in unseren Räumen zu präsentieren.
Ein weiteres Thema war "90 +": Bilder von Menschen, die das neunzigste Lebensjahr vollendet hatten. Es entstand nach und nach eine Reihe von Portraits ausdrucksstarker, faszinierender, alter Menschen. Beim genauen Betrachten meiner Bilder, die in den nächsten Monaten in dieser Zeitschrift veröffentlicht werden, werden Sie feststellen, dass meine Lieblingsmodelle entweder ganz jung oder sehr alt sind.
Projekt "Dorftotentanz"
Dann wagten wir uns an ein anspruchsvolles und zeitaufwendiges Thema: "Ein Dorftotentanz". Ich hatte mich intensiv mit dem kunsthistorischen Thema "Totentanz" beschäftigt, der im 14. Jahrhundert um die Zeit der großen Pestepidemien entstand, aber wohl keinen ursächlichen Zusammenhang damit hat. Totentänze stellen üblicherweise Paarreigen dar, wobei eine Todesfigur wie z. B. ein Skelett je einen Menschen verschiedener Stände von Kaiser oder Papst bis hin zu Bettler oder Gaukler abholt. Meist waren sie kombiniert mit einem versförmigen Wechselgespräch zwischen Tod und Mensch. Sie waren meist an Klostermauern, Friedhofsmauern oder in Kirchen als "memento mori" angebracht. Die Idee, mit unserem Dorf einen solchen Totentanz zu fotografieren, war verlockend, zumal wir damit die historische Distanz aufbrechen wollten und das Thema ganz ins Hier und Jetzt holen wollten. Wir mieteten für sechs Monate einen leer stehenden Raum in der Nachbarschaft und richteten ein kleines Studio ein. Danach baten wir nach und nach gut fünfzig Bürger unseres Hinterland-Dorfes – die Gegend zwischen Marburg und Siegen heißt wirklich und zu Recht so – sich zu diesem Projekt typisch fotografieren zu lassen. Vom Bürgermeister und Pfarrer bis zu Mutter mit Kleinkind und Mitbürger mit prekärem Hintergrund sagten fast alle zu. Meine Frau hat übrigens das ganze Projekt konsequent in Color fotografiert, um jede künstlerische Abstraktion durch Weglassen der von uns wahrgenommenen Farben zu umgehen. Auch diese Fotoserie wurde in den Praxisräumen ausgestellt und fand nicht nur großes Interesse, sondern bis auf einzelne kritische Stimmen fast nur Zustimmung.
Von der Praxis bis zur DEGAM
Es blieb aber nicht nur bei Präsentationen in der eigenen Praxis. Zwischenzeitlich sind es mehr als ein Dutzend Ausstellungen in verschiedenen Städten Deutschlands wie auch im Ausland (Schweiz und Norwegen) geworden. Meine letzte Ausstellung zusammen mit einem Workshop über "Die Kamera als Praxisbegleiterin" fand im Rahmen des letztjährigen DEGAM-Kongresses in Düsseldorf statt. Damals regte Prof. Dr. Frank Mader an, einen Teil der dort gezeigten Bilder in dieser Zeitschrift einem breiteren Publikum zugänglich zu machen.
Das Foto als Ausdruck der Bewunderung für den Menschen
Die Entstehung des Großteils dieser Bilder war nur möglich auf dem Boden einer über viele Jahre gewachsenen Vertrauensbasis zwischen porträtierten Patienten und betreuendem Hausarzt, für den das Gegenüber nicht nur "Krankheitsträger", sondern oft eine Persönlichkeit mit bewundernswerter Lebensleistung ist. Diese Bewunderung auch auszudrücken, ist mir nie schwergefallen.
Im Laufe der Jahre wurde ich auch noch zu einem Foto-Dokumentar des dörflichen Lebens um die Jahrtausendwende. So entstanden Serien von den letzten Hausschlachtungen, Brotbacken, Kartoffelernte und über unsere Mini-Grundschule. Es sei noch erwähnt, dass alle SW-Filme von mir eigenhändig in der Dunkelkammer entwickelt wurden und dass ich dort alle Abzüge analog erstellt habe.
Sollten Sie als Leser dieser Zeilen und nach Betrachtung der Bildergalerie in den nächsten Monaten sich angeregt fühlen, selbst im Rahmen Ihrer Praxistätigkeit zur Kamera zu greifen, so wünsche ich Ihnen genauso viel Freude und Erfüllung dabei, wie ich sie hatte, und allzeit "Gut Licht!"
Info
Im Jahr 1995 richteten wir einen Fotowettbewerb aus, bei dem Dr. Rudolf Kraft den ersten Platz belegte und anlässlich des Seminarkongresses practica in Bad Orb den Preis – eine Leica-Kamera – verliehen bekam.
Autor:
Dr. Rudolf Kraft
Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2018; 40 (10) Seite 66-70
Dieser Beitrag wurde ursprünglich auf doctors.today publiziert.