Unterwegs im Notfall Regeln gelten trotzdem

Praxisführung Autor: T. Münnch

„Die Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit meiner Patienten soll oberstes Gebot meines Handelns sein.“ So steht es in Anlehnung an den Hippokratischen Eid in jeder ärztlichen Landesberufsordnung. Was aber, wenn der Hausarzt mit dem Auto zu einem akut erkrankten Patienten eilen will, dabei jedoch durch ständige Tempo-30-Zonen ausgebremst wird? Was, wenn am Zielort ein freier Parkplatz partout nicht zu finden ist?

Darf der Arzt dann schneller fahren, „als die Polizei erlaubt“? Darf er sein Fahrzeug auf dem Gehweg vor dem Haus des Patienten abstellen? Kann das Wohl des Patienten höher stehen als Straßenverkehrsregeln? Die Frage zu stellen heißt, sie zu bejahen. Die Voraussetzungen sind freilich sehr eng und wohl nur in seltenen Ausnahmefällen erfüllt.

Wann droht Gefahr?

Wer Verkehrsregeln verletzt, begeht (zumeist) eine Ordnungswidrigkeit. Es drohen Bußgeld, Punkte in Flensburg, ein vorübergehendes Fahrverbot oder sogar der Entzug der Fahrerlaubnis. Auch berufsrechtliche Sanktionen der Ärztekammer können die Folge sein. In § 16 Ordnungswidrigkeitengesetz (OWiG) ist allerdings bestimmt, dass der Verstoß gegen eine Verkehrsregel „nicht rechtswidrig“ ist, wenn damit eine gegenwärtige, nicht anders abwendbare Gefahr für Leben oder Leib abgewendet werden soll.

Voraussetzung ist indes zum einen, dass die drohende Gefahr den Schutzzweck der verletzten Verkehrsregel „wesentlich überwiegt“. Zum anderen muss die Regelverletzung ein zur Gefahrabwendung „angemessenes Mittel“ sein. Es liegt auf der Hand, dass diese beiden doch sehr abstrakten Gesetzesformulierungen zu erheblichen Problemen in der alltäglichen Anwendung führen. Oder wie es der Jurist so schön sagt: Es kommt auf die Umstände des Einzelfalles an.

Im Einzelfall bedarf es insbesondere Feststellungen zu der Frage, wie sich die drohende Gefahr konkret darstellte. Unter welcher Erkrankung litt der Patient, welche Behandlungsmaßnahmen waren erforderlich und welche gesundheitlichen Gefahren hätten dem Patienten bei ausbleibender Behandlung innerhalb welchen zeitlichen Rahmens gedroht?

Wie groß war die Zeitersparnis?

Bei Geschwindigkeitsüberschreitungen, Rotlichtverstößen oder verkehrswidrigem Parken ist zu klären, in welchem Umfang der Verstoß zu einer Verkürzung der Anreisezeit geführt hat und welchen wesentlichen Vorteil die Zeitersparnis für den Patienten brachte. Gerade diese Prüfung ergibt vielfach, dass der Verkehrsverstoß, z. B. das Fahren mit überhöhter Geschwindigkeit, wegen der geringen, oft nur wenige Minuten betragenden Zeitersparnis kein „angemessenes Mittel“ ist, die Gefahr abzuwenden. Vor allem die in der Regel bestehende Möglichkeit, bei akuten Krankheitszuständen die erforderliche Hilfe auch mit einem Notarzt herbeizurufen, welcher über ein Fahrzeug mit Sonderrechten (Blaulicht, Martinshorn) verfügt, beschränkt die Anwendung der Notstandsvorschrift des § 16 OWiG auf wenige Sonderfälle.

Die Rechtsprechung hat Geschwindigkeitsüberschreitungen nicht bei akuten Rückenschmerzen und dadurch bedingten Sehstörungen nach einer Bandscheibenoperation [1], ja wegen der zu geringen Zeitersparnis von 25 Sekunden bis max. einer Minute noch nicht einmal bei einem Herzanfall [2] für gerechtfertigt gehalten.

Keine Sonderrechte beim Parken

In diese Reihe fügt sich auch eine aktuelle Entscheidung des Verwaltungsgerichts Münster ein, in der es um 122 Euro für eine begonnene Abschleppaktion ging [3]. Eine Hausärztin hatte ihr Fahrzeug auf dem Gehweg abgestellt, um bei einer Patientin einen „Notfallhausbesuch“ durchzuführen. Die Patientin litt an Rückenschmerzen, und es kam neben einem Hexenschuss auch ein Bandscheibenvorfall in Betracht. Die zuständige Verkehrsüberwachungskraft entdeckte das Fahrzeug und rief den Abschleppunternehmer. Zwar kam die Ärztin noch vor dem Aufladen des Fahrzeugs zurück, die Kosten für den abgebrochenen Abschleppvorgang musste sie aber trotzdem zahlen. Ein Notarzteinsatz, so das Gericht, der die Beachtung des Parkverbots auf Gehwegen wegen des Zeitdrucks unverhältnismäßig machen und es rechtfertigen könnte, das Fahrzeug für die Dauer des Einsatzes dort abzustellen, weil sofortige ärztliche Hilfe für Leben und Gesundheit eines Menschen unerlässlich ist, habe nicht vorgelegen. Die ärztliche Hilfe wäre auch dann noch rechtzeitig gewesen, wenn die Ärztin ihr Fahrzeug in dem etwa 10 Gehminuten entfernt liegenden und freien Parkhaus abgestellt hätte. Das Interesse der Ärztin an einem möglichst kurzen Weg bis zur Wohnung der Patientin sei – selbst unter Berücksichtigung des Wunsches, der Patientin möglichst schnell zu helfen – dem öffentlichen Interesse an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit unterzuordnen. Für unerheblich hielt es das Gericht übrigens auch, dass es während des Parkens zu keiner konkreten Gefährdung anderer Personen gekommen war. Es reiche aus, dass potentielle Fußgänger auf die Fahrbahn hätten wechseln müssen und es dadurch zu einer konkreten Gefährdung gekommen wäre.

Eine Ausnahmegenehmigung hilft

An der rechtlichen Beurteilung hätte sich übrigens nichts geändert, wenn die Ärztin ein Arzt-Notfall-Schild in ihrem Auto ausgelegt hätte. Dieses von einigen Ärztekammern ausgegebene Schild kann das Straßenverkehrs- und das Ordnungswidrigkeitenrecht nicht außer Kraft setzen. Helfen können nur die von den Verkehrsbehörden ausgestellten Ausnahmegenehmigungen. Hierzu muss der Arzt beim örtlich zuständigen Verkehrsamt einen Antrag stellen und nachweisen, dass er häufig Kranke besucht. In der Regel werden mehr als 100 Besuche pro Quartal gefordert. Mit der Erlaubnis darf der Arzt dann sein Fahrzeug auch unter Missachtung der örtlichen Park- oder Halteverbote abstellen.

Die Rechtsprechung hat aber die „gute Absicht“ des Arztes in einigen Fällen doch noch positiv gewürdigt, indem z. B. vom Regelfahrverbot abgesehen wurde. Ein Arzt, der zu einem Notfall gerufen wird und dabei Straßenverkehrsregeln überschreitet (obwohl die oben genannten Voraussetzungen nicht vorlagen), handelt nicht aus grobem Leichtsinn, grober Nachlässigkeit oder Gleichgültigkeit, sondern aus Sorge um das Leben oder die Gesundheit seines Patienten. Das befreit ihn zwar nicht vom Bußgeld. Ein mit Rettungswillen begangener Verkehrsverstoß kann aber der Einstufung als grobe Pflichtverletzung entgegenstehen und deshalb ein Absehen vom Fahrverbot rechtfertigen [4]. Aber auch hier kommt es auf die Umstände des Einzelfalles an. Gerichte hinterfragen die entsprechenden Einwendungen des Arztes sehr kritisch und überprüfen sie unter Umständen durch Befragung des Patienten oder von Mitarbeitern der Arztpraxis – auch, um das missbräuchliche Behaupten eines solchen Ausnahmefalls zu verhindern.

„ARZT“-Parkplatz als Appell

Probleme können aber nicht nur bei Hausbesuchen, sondern auch vor der eigenen Praxis auftreten, nämlich dann, wenn wieder einmal partout kein Parkplatz zu finden ist. Der Gesetzgeber hat diese Schwierigkeit – leider – der beruflichen Risikosphäre des Arztes zugewiesen. Zwar sieht man gelegentlich Parkplätze auf öffentlichem Straßenland, die mit einer durchgezogenen Linie und dem Wort „ARZT“ gekennzeichnet sind. Eine solche Bodenmarkierung ist allerdings in der Straßenverkehrsordnung nicht definiert. Von ihr und auch von einem ggf. beigefügten Schild geht deshalb keine Rechtswirkung in Gestalt einer Parkeinschränkung gegenüber Dritten aus. Es wird lediglich an die Vernunft und Hilfsbereitschaft der anderen Kraftfahrer appelliert, den Stellplatz nicht zu belegen. Geschieht dies dennoch, besteht weder für den Arzt noch für die Polizei die Möglichkeit, gegen den vermeintlichen „Falschparker“ vorzugehen [5]. Gleichwohl kann es sich wegen der Appellwirkung des „Arztstellplatzes“ lohnen, eine Erlaubnis zu seiner Einrichtung zu beantragen. Dabei muss allerdings nachgewiesen werden, dass in zumutbarer Nähe wirklich keine Parkplätze verfügbar sind – was wieder eine Frage des Einzelfalles ist.

Urteile

  1. Bayerisches Oberstes Landesgericht, Beschluss vom 22.11.1999, Aktenzeichen 2 ObOWi 518/99
  2. Kammergericht Berlin, Beschluss vom 07.02.1977, Aktenzeichen 3 Ws (B) 24/77, veröffentlicht in VRS 53, 60
  3. Urteil vom 31.01.2014, Aktenzeichen 1 K 1483/12
  4. OLG Köln, Beschluss vom 02.05.2005, Aktenzeichen 8 Ss-OWi 98/05
  5. VG Hamburg, Urteil vom 27.06.2012, Aktenzeichen 15 K 1798/09

Autor:
Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht
Dierks + Bohle Rechtsanwälte mbB
www.db-law.de

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2014; 36 (19) Seite 76-81
Dieser Beitrag wurde ursprünglich auf doctors.today publiziert.

Wegen der geringen Zeitersparnis wird zu schnelles Fahren durch Gerichte kaum als angemessen anerkannt. Wegen der geringen Zeitersparnis wird zu schnelles Fahren durch Gerichte kaum als angemessen anerkannt. © Sven Grundmann - Fotolia
Kommunen können Ausnahmegenehmigungen erteilen. Kommunen können Ausnahmegenehmigungen erteilen.