Gewaltprävention Sicher beim Hausbesuch und im Bereitschaftsdienst

Praxisführung Autor: F. Vorderwühlbecke

Das Thema „aggressives Verhalten von Patienten“ wird in der ärztlichen Aus-, Fort- und Weiterbildung kaum oder gar nicht aufgegriffen. Es scheint nicht so recht in unser Selbstbild als Ärzte zu passen. Wer sich als willkommener Helfer sieht, der rechnet nicht mit Aggression oder Gewalt. Dies kann dazu führen, von einer kritischen Situation völlig überrascht und dementsprechend hilflos zu sein. Die Gefahr einer Traumatisierung der Betroffenen ist damit besonders hoch.

Einen Mitschnitt aus den praktischen Übungenfinden Sie auf unserer Homepage unter www.allgemeinarzt-online.de (Menüpunkt: Leserservice) oder unter dem obigen ShutterLink®.

Orientiert man sich an internationalen Studien, so scheint aggressives Verhalten gegenüber Ärztinnen und Ärzten leider häufiger vorzukommen, als wir gemeinhin annehmen. So kamen in Australien vier verschiedene Studien in den Jahren 2003 bis 2007 zu dem Ergebnis, dass in den letzten zwölf Monaten vor den Befragungen 48 – 64 % der befragten 1 138 Hausärzte Gewalterfahrungen gemacht hatten. Dies führte unter anderem zu dem Sicherheitsprogramm „General Practice – a safe place“ des Royal Aus-tralian College of General Practitioners, dem mehrere der folgenden Hinweise entspringen.

In Deutschland liegen für den hausärztlichen Bereich leider keine vergleichbaren Erhebungen vor. Speziell beim Hausbesuch und im Bereitschaftsdienst berichten Kolleginnen und Kollegen jedoch immer wieder über Erfahrungen mit aggressivem und/oder sogar gewalttätigem Verhalten und die Zahlen aus dem Rettungsdienst sind besorgniserregend. Für den Umgang mit Aggression in der täglichen Praxis und besonders auf Hausbesuch bietet sich ein Deeskalationsmodell auf vier Säulen an, die nachfolgend dargestellt werden.

Säule 1: Prävention / erster Eindruck / Risikominimierung

Prävention heißt zunächst einmal zu akzeptieren, dass Sie auf Ihrem Hausbesuch plötzlich einer aggressiven und gewaltbereiten Person gegenüberstehen könnten, und sich bereits im Vorfeld mit dieser Möglichkeit zu befassen. Dies beginnt u. a. mit dem richtigen Material: Bin ich in der Lage, mit diesen Schuhen auch einmal die Flucht zu ergreifen? Kann ich mit meinem Handy schnell und eventuell sogar ohne hinzusehen einen Notruf absetzen? Der Kasten auf Seite 16 listet weitere Fragen auf, über die man sich im Vorfeld Gedanken machen sollte.

Der erste Eindruck entsteht innerhalb von wenigen Sekunden und entscheidet oft schon darüber, ob uns jemand positiv oder negativ gegenübersteht. Sie sollten sich diese Tatsache zunutze machen und darauf achten, dass Sie wie folgt auftreten:

  • Sauber, professionell, klar als Ärztin/Arzt erkennbar
  • Mit freundlicher, korrekter, aber bestimmter Grundhaltung
  • Angemessen laut, deutlich und nicht zu schnell sprechend
  • Die Körpersprache sollte selbstsicher, aber nicht herausfordernd oder bedrohlich sein.

Es empfiehlt sich, sich vor dem Klingeln an einer fremden Haustür noch einmal zu sammeln. Eine Entschuldigung für eine eventuelle Wartezeit geht locker von den Lippen und kann die Ausgangslage unter Umständen entscheidend verbessern.

Zur Risikominimierung halten Sie beim ersten Kontakt mindestens einen Abstand von 1,5 Metern (ggf. beim Öffnen der Türe einen Schritt zurücktreten) und schätzen Sie Ihr Gegenüber von dieser Position aus ein. Achten Sie dabei auf Auffälligkeiten im Verhalten oder bei Äußerungen. Achten Sie darauf, dass Sie beide Hände sehen und keine gefährlichen Gegenstände gehalten werden. Stellen Sie sich klar als Ärztin/Arzt vor und wahren Sie den Intimbereich Ihres Gegenübers: Fragen Sie, ob Sie hereinkommen dürfen und später auch, ob Sie den Patienten untersuchen dürfen. Verschaffen Sie sich rasch einen orientierenden Überblick über die fremde Wohnung: Geordnet oder chaotisch? Irgendwelche gefährlichen Gegenstände oder Waffen? Weitere Personen? Haustiere?

Säule 2: Aufnahme und Analyse von auffälligem Verhalten

Das Verhalten Ihres Gegenübers und die Situation als Ganzes sollten Sie ständig aufnehmen und analysieren. Hierzu ist jedoch ein entsprechendes Wissen um die eigenen „Triggerpunkte“ und Gründe für aggressives Verhalten nötig. Versuchen Sie grundsätzlich professionell und zielorientiert zu arbeiten.

Risikofaktoren für gewalttätiges Verhalten sind:

  • Gewalttätiges Verhalten in der Vergangenheit
  • Alkohol/Drogen: Abusus, Entzug
  • Unzureichend oder nicht behandelte psychische Erkrankungen
  • Kumulative Stressfaktoren wie Trauer, Angst, eine Notlage, gefühlte Ausweglosigkeit, Verzweiflung und Schmerz.

Hinweise auf eskalierende Aggression können sein:

  • Versteckte oder offene Drohungen
  • Ausbrüche von irrationalem Ärger
  • Mit dem Finger zeigen, fluchen, Beschimpfungen, heftiger Umgang mit Objekten (z. B. Türen oder Stühlen)
  • Intensives Anstarren / Vermeiden von Blickkontakt
  • Erhöhte psychomotorische Aktivität (Ruhelosigkeit, Automatismen, „Umhertigern“, Unfähigkeit, still zu sitzen)
  • Verweigerung zu kommunizieren, Rückzug
  • Gewalttätige Gedanken (ggf. laut ausgesprochen)
  • Hinweise auf frühere Episoden von aggressivem Verhalten

Säule 3: Verbale Deeskalation

Die verbale Deeskalation soll verhindern, dass sich Aggressionen aufschaukeln, sie soll das Erreichen oder die Rückkehr auf ein akzeptables Kommunikations- und Sicherheitsniveau ermöglichen. Weiterhin soll ein Umschlagen in körperliche Gewalt abgewehrt werden.

Um mit einem aggressiven Patienten Kontakt aufzunehmen, bietet es sich an, diesen mit einem Sicherheitsabstand (wenn möglich durch ein Hindernis wie einen Stuhl getrennt) mehrfach mit seinem Namen anzusprechen. Versuchen Sie, Ihr Gegenüber mit einer Einstiegsfrage zum Nachdenken zu bringen, beispielsweise „Was macht Sie denn so wütend?“. Die Aussage des Patienten kann eventuell aufgenommen und wiedergegeben werden, während Sie versuchen, die Ursache zu konkretisieren. In dieser Phase ist es überhaupt nicht wichtig, sich durchzusetzen oder Recht zu haben! Auch hier sollte professionell und lösungsorientiert gearbeitet werden. Bedrängen Sie Ihr Gegenüber nicht, sondern bieten Sie Wahlmöglichkeiten und Auswege an.

Säule 4: Eigenschutztechniken

Wenn Sie das Gefühl haben, in Gefahr zu sein, verlassen Sie den Ort umgehend. Sogenannte „get out phrases“ wie „Entschuldigung – ich bekomme gerade einen Anruf“ haben sich bewährt. Achten Sie darauf, dass Sie einem potentiellen Angreifer nicht den Rücken zukehren. Wenn Sie ein Haus oder eine Wohnung verlassen haben, ist es nicht empfehlenswert, alleine zurückzukehren. Benachrichtigen Sie im Bereitschaftsdienst die Leitstelle und gegebenenfalls auch die Polizei.

Körperliche Techniken zum Eigenschutz machen nur Sinn, wenn sie für Sie einfach anzuwenden, wirkungsvoll und sicher sind sowie regelmäßig geübt werden. Die optimale Lösung wäre die Ausübung einer Kampfsportart. Regelmäßiges Üben von körperlichen Attacken hilft, im Ernstfall eine „Schockstarre“ zu verhindern.

Schlussbemerkung

Ein wissenschaftliches Aufgreifen des Themas „Gewalt gegen Hausärzte“ in Deutschland ist wünschenswert und überfällig. Gleichzeitig sollte unbedingt eine professionelle Diskussion um die Sicherheit der Ärztinnen und Ärzte im Bereitschaftsdienst erfolgen und es sollten gezielt Maßnahmen zum Schutz der Kolleginnen und Kollegen ergriffen werden.

Trotzdem erscheint es mir wichtig, am Ende des Artikels noch einmal darauf hinzuweisen, dass der überwiegende Anteil unserer Patienten nette und friedliebende Menschen sind, die unsere Besuche schätzen. Das Restrisiko kann durch richtige Vorbereitung und professionelles Verhalten noch einmal deutlich verringert werden.▪

Vor einem Hausbesuch sollte man sich die folgenden Fragen stellen:

  • Regulärer /bekannter Patient?
  • Wird es dunkel sein?
  • Habe ich eine funktionierende Taschenlampe?
  • Sind die Straßen gut beleuchtet?
  • Werde ich auf dem Weg zum Hausbesuch verlassene Straßen nutzen?
  • Handelt es sich um ein Haus oder eine Wohnanlage?
  • Bekannter „sozialer Brennpunkt“?
  • Werden andere Personen vor Ort sein?
  • Gibt es belebte Orte, zu denen ich nachts notfalls zu Fuß flüchten kann?
  • Fühle ich mich sicher und wenn nicht – warum?
  • Fahre ich den Besuch alleine?
  • Habe ich ein funktionierendes (geladenes) Handy?
  • Habe ich die Telefonnummer des Patienten?
  • Wer weiß, wo ich hingehe?
  • Habe ich ein Rückmeldesystem?

Auf folgende Grundregeln ist beim Hausbesuch zu achten:

  • Überblick über die Situation und anwesende Personen erlangen und behalten.
  • Rückzugsweg muss bekannt sein und offen bleiben (kein Absperren der Tür hinter uns!).
  • Verbindungsaufnahme zur Außenwelt (Leitstelle, evtl. Polizei) muss jederzeit möglich sein.
  • Potentiell gefährliche Haustiere (z. B. Hunde) werden in einen anderen Raum gesperrt.
  • Keine Behandlung im Beisein mehrerer weiterer Personen (evtl. Rückzug in „Behandlungsraum“ mit dem Patienten und ggf. einer Vertrauensperson).
  • Soweit möglich keine Behandlung unter Bedrohung oder in gefährlichen Situationen.
  • Keine Heldentaten! Rückzug ist keine Schande, sondern Professionalität.
Kontakt:
Dr. med. Florian Vorderwülbecke
Facharzt für Allgemeinmedizin
82041 Oberhaching

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2013; 35 (1) Seite 16-18
Dieser Beitrag wurde ursprünglich auf doctors.today publiziert.

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Co-Trainer Fritz Hanstein demonstriert die Selbstverteidigung mit einem Kubotan-Stick, der einen Angreifer durch punktuellen Schmerz stoppt, ohne ihn zu verletzen. Der Umgang damit will aber geübt sein. Co-Trainer Fritz Hanstein demonstriert die Selbstverteidigung mit einem Kubotan-Stick, der einen Angreifer durch punktuellen Schmerz stoppt, ohne ihn zu verletzen. Der Umgang damit will aber geübt sein.
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