Krankheit, Arbeit und Beruf Sozialmedizin leicht gemacht

Praxisführung Autor: J. Herbers

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Im Studium gehört Sozialmedizin nicht zu den Favoriten: Sie gilt als trocken und für die tägliche Arbeit unwichtig. In der Praxis ändert sich das schlagartig: Formulare sind auszufüllen, Stellungnahmen abzugeben, Widersprüche einzulegen, sozialmedizinische Begriffe wie Erwerbsfähigkeit oder Grad der Behinderung müssen beherrscht werden. Wir beleuchten einige wichtige Aspekte der verschiedenen Versicherungszweige.

Arbeitsunfähigkeit, Arbeitsunfälle, Erwerbsunfähigkeit, Behinderung und Rehabilitation sind Themen, mit denen der Hausarzt in seiner Praxis immer wieder konfrontiert wird. Geregelt sind sie in verschiedenen Büchern des Sozialgesetzbuchs (SGB). Maßgeblich für die hausärztliche Tätigkeit auf sozialmedizinischem Gebiet ist das Sozialgesetzbuch V (Gesetzliche Krankenversicherung) mit seinen über 400 Paragraphen. Dessen teilweise allgemein gehaltene Bestimmungen lassen sich unterschiedlich deuten, manches bleibt einfach offen. Aufgabe des Gemeinsamen Bundesausschusses Ärzte und Krankenkassen (G-BA) ist es, für klare Verhältnisse zu sorgen. Hierfür erlässt der G-BA Richtlinien, die bindend für den Hausarzt und auch für die Krankenkasse sind. Sie liegen auch den folgenden Erläuterungen zugrunde.

Wann ist jemand arbeitsunfähig?

Bei der Arbeitsunfähigkeit (AU) sind vier verschiedene Konstellationen zu unterscheiden. Hat der Patient einen Arbeitsplatz, so besteht AU, wenn diese Tätigkeit krankheitsbedingt nicht durchgeführt werden kann, wenn sie zu einer Verschlechterung führen würde oder aus der Ausübung der Tätigkeit für die Gesundheit abträgliche Folgen erwachsen. Ist der Patient arbeitslos, so besteht AU, wenn eine leichte Tätigkeit nicht in dem zeitlichen Umfang ausgeübt werden kann, für den sich der Patient der Vermittlung zur Verfügung gestellt hat (also halb- oder ganztags). Die zuletzt ausgeübte Tätigkeit spielt hier keine Rolle. Erhält der Patient Grundsicherung für Arbeitsuchende („Hartz IV“), so besteht AU, wenn eine leichte Tätigkeit an drei Stunden pro Tag oder eine Eingliederungsmaßnahme nicht durchgeführt werden kann. Verliert der Patient seinen Arbeitsplatz während der AU, so hat die Krankenkasse dem Arzt mitzuteilen, dass der Patient keinen Arbeitsplatz mehr hat (wichtig: er ist dann nicht arbeitslos, weil nicht arbeitsuchend) und welche Vergleichstätigkeit nun für die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit anzusetzen ist. Ein Verweis auf den allgemeinen Arbeitsmarkt und somit leichte körperliche Tätigkeiten ist nicht statthaft, wird aber oft gemacht.

Die Kostenträger-Frage

Bei Vorsorge- oder Rehabilitationsmaßnahmen ist zunächst zu klären, welcher Kostenträger zahlt. Bei Erwerbstätigen ist die Rentenversicherung für eine Reha zuständig, bei Rentnern und voll Erwerbsunfähigen ist es die Krankenkasse. Ausnahme: Krebserkrankung in den ersten drei Jahren nach Diagnose, Rezidiv oder Metastase. Für Kinder haben Eltern das Wahlrecht, ob der Antrag bei Kasse oder Rentenversicherung eingereicht wird. Vorsorgekuren (ambulant oder stationär) werden von der Kasse bezahlt, ebenso Mutter/Vater-(Kind-)Kuren. Bei diesen ist ein Verweis auf die Rentenversicherung oder auf nicht ausreichend durchgeführte ambulante Maßnahmen durch die Krankenkasse nicht statthaft. Wenn im Haushalt ein Kind unter 12 Jahren lebt, leistet von Gesetz wegen jede Krankenkasse Haushaltshilfe bei stationärer Behandlung, Reha oder Vorsorgebehandlung eines Elternteils. Die Satzung vieler Kassen legt darüber hinaus großzügigere Leistungen fest, z. B. die Leistung bei akuter oder schwerer Erkrankung auch ohne stationären Aufenthalt, bei höherem Kindesalter, ja sogar ohne Kinder. Bleibt ein Partner zu Hause und nimmt Sonderurlaub, kann die Krankenkasse Kosten bis zur Höhe einer ansonsten fälligen Haushaltshilfe erstatten.

MDK: Einspruch!

Der MDK ist der sozialmedizinische Beratungs- und Begutachtungsdienst der gesetzlichen Krankenversicherung. Er ist organisatorisch selbstständig und fachlich unabhängig. Die Ärzte des MDK sind nur ihrem ärztlichen Gewissen unterworfen (SGB V, § 275 Abs. 5); der MDK darf nicht in die ärztliche Behandlung eingreifen und ist verpflichtet, dem Arzt, über dessen Leistung er ein Gutachten erstellt hat, das Ergebnis der Begutachtung mitzuteilen (§ 277). Wenn der Hausarzt nicht mit dem Ergebnis des MDK-Gutachtens übereinstimmt, sollte er Einspruch einlegen und diesen der Krankenkasse zusenden. Diese legt den Einspruch dem MDK vor. Hier wird der Gutachter entscheiden, ob er zu einer anderen Meinung kommt, andernfalls wird es einem Zweitgutachter zur erneuten Begutachtung zugeführt. Diese ist dann verbindlich.

Erwerbsunfähigkeit geht die RV an

In der Rentenversicherung (SGB VI) spielt der Begriff der Erwerbsfähigkeit eine große Rolle. Eine Rehabilitationsmaßnahme wird nur gewährt, wenn die Erwerbsfähigkeit gemindert oder gefährdet ist. Während der Begriff der Arbeitsfähigkeit nur den aktuellen Zustand im Blick hat, geht es bei der Erwerbsfähigkeit um einen prinzipiellen Gesundheitszustand mit Dauercharakter (d.h. einen Zustand, der mindestens sechs Monate anhalten wird). Voll erwerbsgemindert ist jemand, der außerstande ist, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter den üblichen Bedingungen mindestens drei Stunden zu arbeiten. Wer mindestens sechs Stunden arbeiten kann, ist nicht erwerbsgemindert, und wer mindestens drei, aber weniger als sechs Stunden arbeiten kann, ist teilweise erwerbsgemindert – unabhängig vom ausgeübten oder erlernten Beruf. Bei vor 1961 Geborenen gibt es noch die Berufsunfähigkeit. Berufsunfähig ist, wer weniger als sechs Stunden in seinem Beruf arbeiten kann, aber noch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einsetzbar ist.

Rehabilitation und Behinderung

Menschen sind behindert, wenn ihre körperlichen, geistigen oder seelischen Kräfte mehr als sechs Monate eingeschränkt und sie dadurch an der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt sind (SGB IX). Die Beeinträchtigung bemisst sich am Grad der Behinderung (GdB), der ohne Einheit, also auch ohne Prozentzahl, angegeben wird. Der niedrigste GdB beträgt 10, der maximale 100. Beurteilungsgrundlage ist die etwa jährlich aktualisierte Versorgungsmedizin-Verordnung, in der für fast alle Erkrankungen – abhängig von deren Ausmaß – ein GdB nachzulesen ist. Die Schwierigkeit besteht darin, den Gesamt-GdB zu ermitteln. Dafür gibt es kein mathematisches Modell, sondern es kommt auf die Gesamtschau der Einschränkungen an. Auf keinen Fall werden die einzeln ermittelten Behinderungs-Grade zusammengezählt! Ab einem GdB von 50 wird eine Schwerbehinderung anerkannt, welche mit verschiedenen Nachteilsausgleichen verbunden ist – am wichtigsten sind der vorzeitige Renteneintritt ohne Abschlag (vom 67. Lebensjahr auf das 63. vorgezogen) und der erweiterte Kündigungsschutz, der bei der Agentur für Arbeit schon bei einem GdB von 30 und bedrohtem Arbeitsplatz beantragt werden kann (sog. Gleichstellung). Weitere Nachteilsausgleiche sind die Merkzeichen auf dem Schwerbehindertenausweis (Tabelle 1, S. 25).

Unfall: Der Schweregrad zählt

Gesetzlich unfallversichert sind Arbeitnehmer während der Arbeit, auf dem direkten Weg von und zur Arbeit, Schüler, Studenten, Kindergartenkinder und Nothelfer (SGB VII). Nicht in der gesetzlichen Unfallversicherung sind Beamte. Bei einem Arbeitsunfall sind zwei Schweregrade zu unterscheiden, nach denen sich die benötigte Behandlung bemisst. „Allgemeine Heilbehandlung“ bezeichnet eine ärztliche Versorgung, die nach Art oder Schwere weder eines besonderen personellen, apparativ-technischen Aufwandes noch einer spezifischen unfallmedizinischen Qualifikation bedarf. In „besonderer Heilbehandlung“ befindet sich ein Patient immer, wenn er wegen des Unfalls stationär behandelt wurde. Sie bedarf eines Durchgangsarztes (D-Arzt); das frühere H-Arzt-Verfahren wird 2016 auslaufen. Tabelle 2 (S. 26) zeigt, wann ein Verunfallter dem D-Arzt vorzustellen ist. Bei „besonderer Heilbehandlung“ darf der Hausarzt keine Leistungen erbringen, auch nicht AU-Meldungen oder Rezepte, die mit dem Unfallleiden zusammenhängen. Wenn der Hausarzt einen Arbeitsunfall behandelt, muss der Berufsgenossenschaft spätestens am folgenden Werktag eine Unfallmeldung gesendet werden (außer bei Vorstellung zum D-Arzt). ▪

Interessenkonflikte:
keine deklariert
Kontakt
Dr. med. Jürgen Herbers
Facharzt für Allgemeinmedizin, Sozialmedizin, Sportmedizin, Ernährungsmedizin (DAEM/DGEM), Naturheilverfahren und Palliativmedizin
74385 Pleidelsheim

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2013; 35 (3) Seite 25-27
Dieser Beitrag wurde ursprünglich auf doctors.today publiziert.

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