Hausärzt:in hautnah Verändert sich durch die COVID-19-Pandemie der Hausbesuch?
Hausbesuchsverlangen werden kritischer hinterfragt
Bis vor einem Jahr habe ich zusammen mit meinem Zwillingsbruder eine land- und kleinstädtische Gemeinschaftspraxis geführt. So manche Handlungsweisen unseres ärztlichen Vorgängerehepaares haben wir bei der Praxisabgabe in den 1980er-Jahren übernommen. Dazu gehörten über drei Jahrzehnte die häuslichen Krankenbesuche bei immobilen und nicht transportablen Patient:innen jeder Altersgruppe. Unsere Praxisnachfolgerin stammt aus der Republik Moldawien, war dort schon als Hausärztin tätig und berichtete uns von einem ganz ähnlichen Arbeitsstil in ihrer Heimat. Deshalb konnte sie unsere Vorgehensweise ohne Probleme unverändert übernehmen – bis April 2020. In dieser frühen Pandemiephase kam es aber dann zu einem Schlüsselereignis. Ein dringend angeforderter Hausbesuch musste zur Abendzeit bei einem Infekterkrankten, greisen Patienten erledigt werden. Wie sich bei der Krankenhauseinweisung herausstellte, war der hochbetagte Herr mit dem Coronavirus infiziert. Eine zweiwöchige Quarantäne der Kollegin mit mehrfacher Testung und eine Praxisfortführung im Notbetrieb wurden erforderlich. Seit diesem Ereignis werden Hausbesuche schon bei der telefonischen Avisierung kritisch hinterfragt und bezüglich einer möglichen COVID-19-Erkrankung durch die Kollegin persönlich abgeklärt. Im Zweifelsfall wird dann eine weitere Versorgung unter Einschaltung der notwendigen Schutzmaßnahmen über die Notdienstzentrale veranlasst. Die übliche hausärztliche Besuchstätigkeit hat sich nachweislich der Abrechnungszahlen auch durch die Corona-Pandemie hingegen nicht verändert.
Effekte auf Patientenkontakte, aber kaum auf den Hausbesuch
Hausbesuche in Coronazeiten gestalten sich unter den AHA-Regeln nicht viel anders als sonst. Sie finden zwar kürzer statt, sind auf das Wesentliche begrenzt und die Händedesinfektion davor und danach gehört zum festen Ritual – wie vorher eigentlich auch schon. Allerdings wird man vermutlich auch nach der Pandemie bei den Hausbesuchen weiter auf eine Maske setzen und die Desinfektion der Hände weiterhin beibehalten. Insgesamt änderte sich außer mit dem Tragen der Maske bei uns zumindest wenig. Das Desinfektionsmittel hat glaube ich jeder in seiner Arzttasche. Denn gerade bei älteren Menschen weiß man ja nicht, ob auch eine andere Besiedelung wie z. B. mit MRSA vorliegt, was insbesondere in den Heimen nicht so selten ist. Bei den Senior:innen nimmt die Videotelefonie bisher keinen so großen Stellenwert ein. Die Angst vor Kontakt im Rahmen des Hausbesuchs habe ich bisher noch nicht wahrgenommen. Auch ist die Angst vor dem Besuch in der nun "leeren" Praxis mit gut organisierten Terminen nicht mehr spürbar. Die Patient:innen nehmen wahr, wenn sie nur 0 bis 15 Minuten warten müssen und aufgrund der AHA-L-Regeln es in der Praxis zu keiner Annäherung untereinander kommt. Auch die Infektsprechzeit vor und nach der regulären Sprechstunde am Seiteneingang entschärft den ganzen Ablauf. Die Videosprechstunde hat eher ihre Vorteile bei Patient:innen mit langem Redebedarf, der bei Face-to-Face-Kontakten in der Pandemie kritisch wäre, oder bei Patient:innen, die weiter entfernt wohnen und sich den Weg in die Praxis somit sparen, oder bei solchen, wo eine körperlich eingehende Untersuchung über die reine Inspektion hinaus nicht erforderlich ist. Bei den älteren Patient:innen, die meist auch nicht mehr so gut sehen, aber doch recht gut hören, ist oftmals, so glaube ich, das Telefon durchaus eine gute Alternative zum Hausbesuch und gerade, wenn das Gespräch ausreichend ist, beruhigt das Telefonat mit der vertrauten Stimme des Behandlers auch ohne Video recht gut. Allerdings wäre es für mich auch gut, die älteren Patient:innen per Videosprechstunde zu sehen, vielleicht entwickelt sich das ja in der Zukunft noch. Dort, wo dadurch Hausbesuche ersetzt werden könnten, macht das auf jeden Fall bei schrumpfenden Arztzahlen Sinn! Wir werden sehen, wie sich diese Corona-Dynamik ggf. positiv in Zukunft auf unseren Alltag auswirkt.
Videosprechstunde: Die Resonanz ist eher durchwachsen
Meiner Erfahrung nach hat sich der Hausbesuch in Coronazeiten nicht wesentlich verändert. Nach anfänglicher Zurückhaltung im Frühjahr 2020 werden aktuell trotz hoher Corona-Infektionszahlen nicht merklich weniger Hausbesuche angefordert. Direkt zu Beginn des ersten Lockdowns haben wir in unserer Praxis eine Videosprechstunde etabliert, um vor allem den Risikogruppen eine alternative Form der Kontaktaufnahme anzubieten. Die Resonanz darauf war eher durchwachsen. Das "Lob" über das neue Angebot steht bis heute in keinster Weise in Relation zur Nachfrage. Gerade die betagteren und besuchsbedürftigen Patient:innen haben sich bisher nicht wirklich mit der Technik anfreunden können. Der häusliche Pflegedienst, der nicht selten für die angeforderten Hausbesuche verantwortlich ist, ist dafür nicht ausgerüstet. Auch in dem von uns betreuten Pflegeheim dachten wir mit der Videosprechstunde doch den ein oder anderen Kontakt in Coronazeiten vermeiden zu können. Doch auch hier ist die Möglichkeit einer Videosprechstunde leider bisher auf wenig Gegenliebe gestoßen. Ich finde, die Videosprechstunde könnte, nicht ausschließlich, aber gerade zu Pandemiezeiten, häufig eine wirkliche Alternative zum persönlichen Kontakt darstellen. Und ganz nebenbei könnte sie uns auf dem Land einige Zeit und Kilometer ersparen. Aber das muss wohl einfach noch reifen.
Eine weitere Möglichkeit zur Entlastung stellt vielleicht in Zukunft die Telemedizin dar. Allerdings ist die Etablierung mit viel Aufwand und Kosten verbunden, sodass diese Möglichkeit kurzfristig wohl in nicht sehr vielen Praxen verfügbar sein wird…
Mehr Organisation, nicht weniger Besuche
Die Corona-Pandemie hat die Hausbesuche verändert. Wohlüberlegt muss vor der Fahrt die Kiste mit der Pandemie-Ausrüstung ins Auto geräumt werden, wenn ein Besuch im Pflegeheim oder bei einer Patient:in mit Infektionszeichen geplant ist. Schutzkittel, Hauben, Handschuhe, Gesichtsvisier, Händedesinfektionsmittel, Oberflächendesinfektionstücher, Müllbeutel. Klare Anordnung im Auto, das im Alltag auch noch zum Einkaufen und als Familienkutsche gebraucht wird. Die eigene Familie soll nicht gefährdet werden. Eintragen in Besuchslisten beim Betreten und Verlassen von Heimen gehört als neuer zusätzlich administrativer Akt zeitlich dazu. Weniger geworden sind die Besuche nicht, bei einigen, die den Weg in die Praxis noch schaffen würden, wird der Hausbesuch eher angefordert aus Angst vor den Kontakten im Wartezimmer. Eine Videosprechstunde kann hier nicht zum Ersatz werden, da in den Heimen keine Internetzugänge für die Bewohner:innen vorhanden sind und die meisten aufgrund von Einschränkungen wie Presbyakusis, Makuladegeneration, kognitiver Defizite dazu nicht in der Lage sind und viele noch nie einen PC genutzt haben. Das Telefon ersetzt einen Teil der Kontakte in der Praxis, erfordert dieselbe genaue Anamnese wie die Videosprechstunde. Ein Anruf ist auch für viele jüngere Patient:innen leichter umsetzbar als eine Videosprechstunde. Die Videosprechstunde setzt einen ruhigen Raum ohne Störung voraus, was häufig in offenen Wohnkonzepten und mit kleinen Kindern nicht gut umsetzbar ist. Psychotherapeut:innen berichten, dass gerade die Jüngeren lieber in die Praxis kommen, da sie sonst nicht frei sprechen können. Die begrenzte Anzahl der Endgeräte erschwert bereits Homeoffice bei gleichzeitigem Homeschooling. Für viele Patient:innen ist die ärztliche Behandlung auch zwingend mit einer Berührung verbunden, sei es das Blutdruckmessen, das Abhören, obwohl es dafür medizinisch gesehen nicht immer einen Grund gibt – doch erst dann fühlen sich manche Patient:innen gut behandelt. Die therapeutische Wirkung des Arzt-Patienten-Kontaktes lässt sich nun mal nicht komplett digitalisieren. Konkrete Konzepte, wie man zeitlich allen Ebenen der ärztlichen Tätigkeit gerecht wird, werden sicher noch Erfahrung brauchen. Derzeit sehe ich uns im zeitlichen Spagat zwischen 25-Stunden-Sprechstundenangebot, dabei Infektionssprechstunde, Sprechstunde für Berufstätige, telefonischer Sprechstunde, Beantwortung von E-Mails, Bearbeitung der Arztbefunde per Post, Hausbesuche, kommende Corona-Impfzeiten und der Videosprechstunde. Telefonate und Meldungen ans Gesundheitsamt am Wochenende inklusive. Spannend vielleicht auch, dass wir noch nie nach einer Videosprechstunde gefragt wurden und selbst die Online-Rezeptbestellung kaum genutzt wird. Dennoch sehe ich eine sinnvolle Ergänzung der Sprechstunde mittels Video im Bereich der Befundbesprechung. Eher technikaffin, sehe ich auch deutlich die Grenzen der Digitalisierung, die die Einbindung von Technik zur Befunderhebung vor Ort braucht. Und auch eine Videosprechstunde kann insbesondere den emotionalen Aspekt der Interaktion nicht wiedergeben.
Sinkende Hausarztdichte wird Telemedizin bedingen
Die Corona-Pandemie verändert sicherlich das Kontaktverhalten unserer Patient:innen. Wir sehen weniger Bagatellfälle. Die Angst vor einer Infektion in der Praxis spielt hier vor allem bei älteren Patient:innen eine große Rolle. Dies betrifft auch die Hausbesuchsanforderungen. Wir haben schon vor Jahren unsere Hausbesuche auf eine reine Anforderungsterminierung umgestellt. Wir fahren keine Routinehausbesuche in regelmäßigen Abständen mehr. Hier haben wir einen Standortvorteil gegenüber Praxen auf dem Land. Die Möglichkeiten der Videosprechstunde werden bei uns eher von jüngeren Patient:innen genutzt. Älteren fehlen oft die technischen Möglichkeiten und das Know-how zur Durchführung. Ich glaube aber, in Zukunft lassen sich die Vorteile der Telemedizin noch deutlich ausdehnen. Hier denke ich auch an die oft noch wenig genutzten NÄPA-Hausbesuche, die bei dringendem Bedarf auch sehr gut mit einem Videoanruf kombiniert werden könnten. Die sinkende Hausarztdichte insbesondere im ländlichen Bereich wird in Zukunft dazu führen, dass die Telemedizin und auch die Videosprechstunde zu einem unabdingbaren Bestandteil der hausärztlichen Versorgung werden muss. Hierzu müssen die Grundbedingungen, wie schnelles Internet, einfache webbasierte Software usw., allerdings noch deutlich verbessert werden.
Redaktion
Erschienen in: doctors|today, 2021; 1 (3) Seite 50-52
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