Interview „Alle Berufsgruppen und Patienten sind repräsentativ vertreten“

Autor: Jochen Schlabing, Nicole Finkenauer

Professor Dr. Monika Kellerer ist Diabetologin, Ärztliche Direktorin der Klinik für Innere Medizin am Marienhospital Stuttgart. Professor Dr. Karsten Müssig ist Diabetologe, Chefarzt der Klinik für Innere Medizin, Gastroenterologie und Diabetologie am Franziskus-Hospital Harderberg. Professor Dr. Monika Kellerer ist Diabetologin, Ärztliche Direktorin der Klinik für Innere Medizin am Marienhospital Stuttgart. Professor Dr. Karsten Müssig ist Diabetologe, Chefarzt der Klinik für Innere Medizin, Gastroenterologie und Diabetologie am Franziskus-Hospital Harderberg. © MQ-Illustrations – stock.adobe.com

Eine wichtige Aufgabe der Deutschen Diabetes Gesellschaft ist es, Leitlinien zu erstellen und an den Leitlinien anderer medizinischer Fachgesellschaften mitzuarbeiten. Koordiniert wird die Leitlinienarbeit von Professor Dr. Monika Kellerer und Professor Dr. Karsten Müssig. Was sind ihre Aufgaben, was macht für die beiden Koordinatoren eine gute Leitlinie aus – und was kostet so eine Leitlinie eigentlich? 

Beide sind selbst sehr erfahren in der Arbeit an Leitlinien – eine gute Voraussetzung dafür, die Leitlinien einer Fachgesellschaft zu koordinieren. Im Interview gewähren Professor Dr. Monika Kellerer und Professor Dr. Karsten Müssig einen Blick hinter die Kulissen.

Frau Professor Kellerer, was sind die Aufgaben der Leitlinienkoordinatoren der DDG?

Prof. Kellerer: Eine wichtige Aufgabe – in Abstimmung mit dem Vorstand, aber auch mit den verschiedenen Kommissionen und Arbeitsgemeinschaften – ist es, herauszufinden: Stehen neue Leitlinienprojekte an? Fehlen Themen, zu denen wir unbedingt noch eine Leitlinie auflegen sollen? Wie ist der Stand unserer Leitlinien – sind diese noch aktuell, stehen Überarbeitungen an? All das muss koordiniert werden und das machen wir als Leitlinienkoordinatoren und werden dabei unterstützt von Frau Dr. Epsch aus der DDG Geschäftsstelle. Wir geben außerdem die Praxisempfehlungen heraus, die jährlich aktualisiert werden. Und wir beraten den Vorstand der DDG, wenn andere Fachgesellschaften die DDG anfragen, um an Leitlinien mitzuarbeiten. Das kommt sehr häufig vor. Und es kommt auch vor, dass wir unsere Mitglieder zu Leitlinienthemen beraten.  

Welche Veränderungen stellen Sie fest, seit Sie in die Leitlinienarbeit involviert sind?  

Prof. Kellerer: Spätestens seit der Coronavirus-Pandemie trifft man sich viel öfter online und muss für Leitlinienprojekte viel weniger reisen. Und dann – und das ist wirklich eine große Veränderung in der Zeit, die ich überblicken kann: Die Prozesse laufen heute deutlich strukturierter ab. Außerdem legt man viel größeren Wert darauf, dass die Leitliniengruppen repräsentativ aufgestellt sind, mit Experten unterschiedlicher Fachgesellschaften. Auch Betroffene und nichtärztliche Berufsgruppen sind vertreten – das war vor 20 Jahren meist noch kein Thema. Prinzipiell ist das eine positive Entwicklung. Allerdings ist es auch eine Entwicklung, die mit größeren Herausforderungen z. B. für die Konsensfindung einhergeht. Aber wenn die Gruppe konstruktiv und gut zusammenarbeitet, ist es eine positive Entwicklung.

Was sind die wichtigsten Regeln für Leitlinien – und was macht eine gute Leitlinie aus?

Prof. Müssig: Ich denke, das Wichtigste ist wirklich die repräsentative Vertretung aller Berufsgruppen und auch der Patienten. Es muss mit großer Transparenz aufgezeigt werden: Wer ist überhaupt verantwortlich für die Leitlinie? So entsteht ein Vertrauen bei denjenigen, die die Leitlinie anwenden, dass sie auch dem Stand der Wissenschaft entspricht. Die Evidenz muss, so gut es gelingen kann, abgebildet werden und es muss klar sein, mit welcher Methodik das geschieht. Und letztlich muss alles in eine Form gebracht werden, die wirklich klare Handlungsanweisungen enthält und die gut lesbar und nutzbar ist, insbesondere durch die in den Kliniken oder in den Praxen tätigen Ärzte.

Prof. Kellerer: Bei einer guten Leitlinie muss erst einmal das Thema stimmen. Es ist gar nicht so trivial, ein gutes und relevantes Thema zu identifizieren. Und man muss prüfen: Wie viel Evidenz gibt es zu dem Thema überhaupt? Wenn es keine Evidenz gibt, wird es sehr schwierig, eine qualitativ hochwertige Leitlinie und damit sinnvolle Therapieempfehlungen zu erarbeiten. Ohne Evidenz wird man meistens nicht über das Niveau von Expertenempfehlungen hinauskommen.  

Gibt es eigentlich Zahlen, wie intensiv Leitlinien genutzt werden?

Prof. Müssig: Ja, tatsächlich gibt es eine Reihe von Untersuchungen. 2020 wurden zum Beispiel in Rheinland-Pfalz und Hessen über 1.000 Hausärzte gefragt, ob sie Leitlinien nutzen. Etwa ein Drittel hat gesagt: „Ich nutze Leitlinien sehr häufig“, ein Drittel sagte: „gelegentlich“ und ein Drittel „eher selten“. Alle aber haben ganz stark die Vorteile von Leitlinien herausgestellt und sagten, dass Leitlinien helfen, eine qualitativ höherwertige Patientenversorgung zu erreichen. Die Kollegen haben betont, dass sie selbst sehr viel gelernt haben, indem sie sich an Leitlinien gehalten haben, und dass durch Leitlinien auch eine Unter-, Über- oder auch Fehlversorgung vermieden werden kann.  

Was geschieht bei einem Fehler, der durch eine leitliniengemäße Behandlung nicht passiert wäre?  

Prof. Kellerer: Meine Erfahrung aus den letzten Jahren ist, dass Gutachter sich schon sehr an den Leitlinien orientieren, und ich glaube, wenn ein Fehler entstanden ist, braucht man schon sehr gute Gründe, warum man sich ganz fernab von einer Leitlinie bewegt hat. Man muss sich nicht zwingend danach richten, aber es wird zunehmend gefordert und genau hinterfragt, wenn es wirklich zum Klagefall kommt.  

Welche Kosten fallen für die Erstellung einer Leitlinie eigentlich an – und wie hoch sind sie?  

Prof. Kellerer: Leitlinien auf S3-Level können unter Umständen 50.000 bis 100.000 Euro kosten, bei manchen Fachgesellschaften auch mehr. Bei uns in der DDG kosten Leitlinien aber selten so viel, meistens liegen wir sogar deutlich darunter. Der größte Brocken dabei ist definitiv die unabhängige Literaturrecherche, die an ein Institut vergeben wird. Von der Leitliniengruppe müssen dafür PICO-Fragen identifiziert werden. Wenn es viele PICO-Fragen sind oder noch nicht so viel Erfahrung damit besteht, kann die Literaturrecherche schnell in Richtung 50.000 Euro und mehr gehen. Die Kosten für die redaktionelle Arbeit und die Reisekosten sind überschaubar, gerade heute, wo sich die Leitliniengruppen meist online treffen. Was ich noch erwähnen möchte: Alle Mitglieder der Leitliniengruppen der DDG arbeiten ehrenamtlich. Finanziert werden die Leitlinien von der Fachgesellschaft und damit von unseren Mitgliedsbeiträgen – also vollkommen unabhängig von Dritten.  

Was halten Sie von einer Vergütung der Leitlinienarbeit?  

Prof. Müssig: Aufgrund der enormen Kosten für die Literaturrecherche kann ich mir das schlecht vorstellen. Kämen noch Honorare hinzu, wäre das durch eine Fachgesellschaft nur mit Mitgliedsbeiträgen sicherlich nicht zu stemmen. Gäbe es Honorare, würden wir auch Gefahr laufen, dass viel weniger Leitlinien zur Verfügung stünden, weil die Finanzierung nicht gesichert wäre. Gerade Leitlinien für seltenere Erkrankungsbilder gäbe es dann möglicherweise nicht. Und das wäre bedauerlich.

Prof. Kellerer: An Leitlinien mitarbeiten zu dürfen, bedeutet auch, als Experte ein gewisses Renommee zu haben. Ich glaube, dass viele Experten mit viel Wissen und viel Erfahrung das Bedürfnis haben, dies mit anderen zu teilen und es zum Wohle der Patienten einzusetzen. Ich sehe es wie Herr Müssig: Die Arbeit an Leitlinien sollte eine ehrenamtliche Tätigkeit bleiben.