Palliativversorgung Wohnortnah auch im ländlichen Raum

Praxisführung Autor: Werner Enzmann

Damit Patienten auf ihrem letzten Lebensweg dank der Pflege vor Ort emotionaler Stress durch Verlegungen erspart bleibt, hat eine ärztliche Gemeinschaftspraxis in der Region Braunschweig-Wolfsburg einen Gegenentwurf zu zentralistischen Hospiz-Lösungen umgesetzt, der darüber hinaus durch Nutzung vorhandener Infrastruktur und Ressourcen auch geringere Kosten verursacht.

Die Ärztliche Gemeinschaftspraxis Michael Pohling, Carla Martin und Dr. Ekkehard Martin aus Lehre in der Region Braunschweig-Wolfsburg wurde 1990 von Michael Pohling in Flechtort/Lehre eröffnet, 2003 mit Carla Martin und 2014 mit Dr. Ekkehard Martin erweitert. Die Praxis beschäftigt darüber hinaus drei angestellte Ärztinnen.

Vorhandene Strukturen nutzen

Seit dem Jahr 2010 ist die hospizlich-palliative Patientenbehandlung wesentlicher Bestandteil der Praxis. Drei der sechs dort arbeitenden Ärzte sind ausgebildete Palliativmediziner. Für die Umsetzung des Konzepts wird bereits vorhandene Infrastruktur genutzt, um Menschen auf ihrem letzten Lebensweg so wenige Unannehmlichkeiten wie möglich zu bereiten und sie emotional nicht zusätzlich durch eine Verlegung in ein Hospiz zu belasten. Dabei ist sowohl eine ambulante Palliativversorgung im häuslichen Umfeld als auch eine wohnortnahe stationäre Lösung möglich.

Das Konzept wurde gemeinsam mit Partnern vor Ort entwickelt. Die ambulante Betreuung wird mit speziell nach den Vorschriften der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung (SAPV) ausgebildeten Pflegekräften eines Dienstleisters realisiert. Für die stationäre Betreuung stehen aktuell vier Betten im Alten- und Pflegeheim "Haus Wartburg" in Lehre sowie Fachpersonal mit der Zusatzausbildung Palliativ Care zur Verfügung. Ziel der Praxis ist es, ihre Palliativversorgung weiter auszubauen. Bedarf und Akzeptanz sind vorhanden. Anfragen gibt es bereits aus Krankenhäusern umliegender Städte, weil Hospizplätze rar sind. Das Konzept der Gemeinschaftspraxis Pohling/Martin bietet die Chance, perspektivisch mehr Menschen mit hoher Qualität palliativ in ihrem gewohnten Umfeld betreuen zu können.

Auszeichnung für das Konzept

Für ihr Konzept ist die Gemeinschaftspraxis nun mit dem renommierten "Innovationspreis 2015 – praktikable Problemlösungen für Ärzte" ausgezeichnet worden, der von der Kooperation Springer Medizin, ÄrzteZeitung und UCB Pharma jährlich deutschlandweit ausgeschrieben wird.

"Wir freuen uns sehr über die Auszeichnung, weil sie auf unser Konzept aufmerksam macht. Wir zeigen damit einen Weg, der nicht ins stationäre Hospiz führt, sondern zur von vielen Patienten gewünschten wohnortnahen Versorgung. Durch den Transfer in andere Praxen ließe sich die Versorgung vieler Patienten verbessern, und es ließen sich darüber hinaus Kosteneinsparungen erzielen", erläutert Michael Pohling. Er baut auch auf Unterstützung aus der Politik, damit die wohnortnahe Palliativversorgung den gleichen Status erhält wie die Versorgung in Hospizen und insgesamt erleichtert wird.

Seine Kollegin Carla Martin teilt diese Einschätzung und führt Beispiele an: "Anders als Patienten in Hospizen müssen unsere heimbetreuten Palliativpatienten die Heimkosten anteilig selbst tragen. Und auch administrative Verordnungen verhindern oft schnelle und medizinisch erforderliche Lösungen im Sinne der Patienten. Bisher muss jeder Transport von der Praxis aus oder von zu Hause aus in das Heim vorher von der Krankenkasse genehmigt werden." Die Auszeichnung mit dem Innovationspreis 2015 soll, das wünschen sich die beiden Preisträger, zu einer allgemeinen und überfälligen Aufwertung der wohnortnahen Palliativversorgung führen.


Begeisterung und Engagement werden von Bürokratie gebremst

Michael Pohling schilderte "Allgemeinarzt"-Redakteur Werner Enzmann das Palliativkonzept.

Herr Pohling, wie entstand die Idee zu Palliativversorgung "aus der Praxis"?

In der SAPV-Betreuung unserer Patienten gab es immer wieder Situationen, die die weitere Versorgung zu Hause nicht mehr erlaubten – etwa aufgrund von physischer und psychischer Überforderung und Zeitmangel der Angehörigen. Als Alternative existierten in unserem Fall zwei Hospize und eine Palliativstation in einem Krankenhaus in Braunschweig gut 13 Kilometer von uns entfernt. Interessierte Schwestern aus einem der von uns betreuten Heime haben sich entsprechend weitergebildet, und durch unser "Vorleben" hat sich die jetzt von uns seit Jahren gelebte Alternative entwickelt. Sie ist also sozusagen aus der Not geboren worden.

Die meisten Menschen wünschen sich nach wie vor ein Sterben zu Hause. Wir gehen auf diese Wünsche ein: Wir können Patienten zu Hause, im Heim in der Nähe und grundsätzlich auch im Hospiz versorgen. Wegen der Entfernung ist für uns Ärzte die Hospizversorgung aber meist nicht durchführbar und ein Arztwechsel erforderlich. Hier zeigt sich dann die starke persönliche Bindung der Patienten zu den Betreuenden. Gut für alle ist die Lastenverteilung auf viele Schultern.

Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit mit dem "Haus Wartburg"?

Wären im "Haus Wartburg" (und demnächst noch in einem zweiten Heim) nicht besondere und engagierte Menschen, die sich der Sache mit viel Herzblut widmen, immer wieder Hürden nehmen und andere mit einbeziehen und begeistern, dann würde es das Projekt so nicht geben. Das gilt auch für die ambulanten Pflegekräfte, die zu Hause und auch auf der Station Betreuung übernehmen. Wir haben auf keiner dieser Ebenen Überzeugungsarbeit leisten müssen. Alle Beteiligten empfinden diese Arbeit als äußerst befriedigend.

Sind Kosten und administrative Hürden ein Hindernis für manche Patienten?

Selbst zu tragende Kosten erschweren oft die Entscheidung für die wohnortnahe Versorgung – es gibt durchaus Patienten, die sich den Eigenanteil ad hoc nicht leisten können. Administrative Probleme bestehen eher für die Verordner: In unserem Fall werden z. B. Kosten für den Transport von zu Hause ins Heim nicht übernommen und müssen individuell genehmigt werden, was Zeit kostet.

Gibt es politische Unterstützung?

Der G-BA stärkt die Hospize (was aus unserer Sicht in Ordnung ist), vergisst dabei aber, dass es nicht überall Hospize gibt und dass sie nicht überall betriebswirtschaftlich sinnvoll betrieben werden können, sodass kleinere Einheiten oft mehr Sinn stiften, zumal sie auch einfacher einzurichten sind. Heime bilden Personal für die Palliativversorgung auf eigene Kosten aus, sie erhalten dafür keine Extravergütung. Durch mediale Berichterstattung hoffen wir, interessierte Politiker ansprechen zu können – es gibt bereits zaghafte Kontakte.

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2016; 38 (8) Seite 66-68
Dieser Beitrag wurde ursprünglich auf doctors.today publiziert.

Carla Martin und Michael Pohling mit dem Medizin-Innovationspreis 2015. Carla Martin und Michael Pohling mit dem Medizin-Innovationspreis 2015. © Springer Verlag, Preisverleihung Innovative Praxis