Virtual Reality Einfach aufschneiden und reinschauen
„See one, do one, teach one.“ So lautete jahrzehntelang das Mantra der chirurgischen Lehre. Doch die Ausbildung im OP-Saal wandelt sich. „Irgendwann ist es das erste Mal am Patienten. Ist das eigentlich ethisch vertretbar, gerade bei größeren Interventionen?“, fragt die Orthopädin und Unfallchirurgin Prof. Dr. Miriam Rüsseler. Sie leitet das interdisziplinäre Simulationszentrum am Universitätsklinikum Frankfurt und setzt sich für neue Wege in der Vermittlung chirurgischer Fähigkeiten ein.
Eingriffe üben, ohne dass jemand zu Schaden kommt
Untersuchungen zufolge fühlen sich viele Studierende insbesondere in praktischen Fertigkeiten nicht ausreichend ausgebildet. „Wir haben in meiner Arbeitsgemeinschaft einmal erhoben, wie sicher sich Studierende bei bestimmten Maßnahmen fühlen. Nur 54 % gaben an, das sie im Praktikum einmal Fäden oder Klammern gezogen hatten“, berichtet Prof. Rüsseler. Mit Simulationen, E-Learning und Virtual Reality (VR) kann der chirurgische Nachwuchs trainieren, ohne dass Menschen zu Schaden kommen können.
Insbesondere in der immersiven Welt von VR-Trainings lernt man anders als nach Lehrbuch oder im E-Learning: „Wer schon einmal eine VR-Brille aufgesetzt hat, weiß, dass man da in eine ganz andere Welt eintaucht“, erklärt die Chirurgin. „Anders als in einem Video auf einem Bildschirm ist man wirklich mitten drin. Das Gehirn kann dann nicht mehr zwischen Realität und Film unterscheiden.“
Aktuell sei der Bereich VR in der Medizin noch „etwas für eine Gruppe von Verrückten, die dort Geld investiert“, meint Prof. Rüsseler. Aufgrund der immensen Kosten für die IT-Entwicklung – sprich: das Zeichnen der VR-Welten – sei die Technik derzeit vor allem in der Spieleindustrie interessant. Doch die Medizin holt langsam auf. „Wichtig ist, dass auch unsere Dozierenden lernen, wie man die verschiedenen Möglichkeiten von Simulation, E-Learning und VR sinnvoll einsetzen kann“, betont sie. Die neuen Möglichkeiten müssten in der Ausbildung und in den Leitlinien verankert werden, damit angehende Chirurginnen und Chirurgen mit den neuen Lehrmethoden ausgebildet werden können.
Pilotprojekte in Köln, Würzburg und Frankfurt zeigen, wohin die Reise gehen könnte. So nutzt man an der Klinik und Poliklinik für Allgemein-, Viszeral-, Tumor- und Transplantationschirurgie der Uniklinik Köln VR zur Unterstützung der anatomisch-chirurgischen Lehre. Für PD Dr. Rabi Raj Datta ist dies ein Weg, um Medizinstudierenden auch komplexe Strukturen wie etwa die Bursa omentalis näherzubringen, die im Anatomiekurs oftmals nicht verstanden werden. Im VR-Lernmodul trainieren die Studierenden das schrittweise Freipräparieren, dazu werden Fragen gestellt. „Und dann bringen wir die Leute direkt in die Bursa omentalis rein. Über uns der Magen, unter uns das Pankreas. Man kann das Pankreas entlanglaufen, überall hingehen und alles anschauen“, berichtete der Viszeralchirurg. Mit dem virtuellen Skalpell könne man sich die operativen Zugänge erschließen.
Ähnlich könne man beim Leistenkanal vorgehen: „Das ist auch so eine Struktur, die man nur schwer versteht.“ Aufschneiden und reinschauen, so lautet auch hier die Devise. „Man ist mittendrin im Leistenkanal und Abdomen, kann die Unterschiede zwischen direkten und indirekten Leistenhernien erkennen.“ Bei den Trainings für einzelne OP-Methoden erklärt eine Stimme die nächsten Schritte, aber auch welches Instrument wann zu benutzen ist, wie man das Herniennetz platziert und am Ende alles wieder zunäht.
Allerdings geht die Einführung von VR-Trainings auch mit einer Reihe von Herausforderungen einher, wendet Dr. Datta ein. Da wären zum einen die Kosten für die erforderliche Hardware und Programmierung. „Es ist auch nicht leicht und deshalb arbeitsintensiv, Programmierern zu erklären, worauf es ankommt, wenn diese keine Ahnung von Medizin haben.“ Als weiteres Manko nennt er die fehlende Haptik – „da sind wir noch dran“.
Ein Programmierer arbeitet Vollzeit für die Uniklinik
Dabei helfen soll das 2023 an der Uniklinik Köln gegründete Center for Medical Innovation & Technology (CeMIT). Es bietet ein VR-Labor mit zwölf Plätzen, an denen alle Studierenden parallel an VR-Simulationen arbeiten können. „Wir haben einen eigenen Programmierer, der inzwischen Vollzeit für uns arbeitet“, berichtet Dr. Datta. VR habe in der chirurgischen Lehre großes Potenzial: „Universitäten müssen die Treiber der Entwicklung sein, aber man muss die Ressourcen im Netzwerk bündeln.“
Am Uniklinikum Würzburg erprobt man den Einsatz von VR im Rahmen der praktischen Rotationsprüfung OSCE (objective structured clinical examination), bei der mithilfe standardisierter Fälle und ebenso standardisierter Bewertungen vor dem Übergang ins Praktische Jahr klinische Kompetenzen getestet werden. „Doch insbesondere wenn die Beherrschung von Notfallsituationen bewertet werden soll, wird es schwierig. Denn diese Situationen sind komplex, man muss schnell entscheiden, ob die Patientin stabil ist oder man ein Konsil benötigt“, berichtet Verena Schreiner. Als studentische Mitarbeiterin am Institut für Medizinische Lehre und Ausbildungsforschung bereitet sie VR-basierte Notfalltrainings wissenschaftlich auf. Mittlerweile wird dort im Prüfungskontext neben der analogen Station mit Schauspielerinnen und Schauspielern auch eine VR-Station genutzt.
Ihr vorläufiges Fazit: Eine VR-Prüfungsstation ist organisatorisch und technisch machbar. Sie schneidet bei den Itemkennwerten insgesamt mindestens genauso gut ab wie die analoge Teststation. Auch die Studierenden hätten sie insgesamt ebenfalls positiv bewertet. „Wenn einzelne Vorbehalte gegenüber der VR-basierten Prüfung hatten, lag es in der Regel daran, dass sie vor der Prüfung noch keinen Kontakt mit VR-Brillen gehabt hatten“, berichtet Schreiner. „VR-basierte Trainings müssten entsprechend auch in der Prüfungsvorbereitung verpflichtend sein.“
Doch nicht nur Studierende, auch fertig ausgebildete Gesundheitsfachkräfte können von VR-Trainings profitieren, wie die Erfahrungen mit dem „Room of Error“ am Universitätsklinikum Frankfurt zeigen. Er wurde entwickelt, um das Situationsbewusstsein von Menschen in Medizin und Pflege zu schärfen, berichtet die Orthopädin und Unfallchirurgin Dr. Jasmina Sterz. Denn fehlendes Situationsbewusstsein gilt neben Fehlern bei Kommunikation, Teamführung und Entscheidungsfindung sowie hoher Arbeitsbelastung als eine zentrale Ursache für Fehler. Beim Room of Error handelt es sich um eine via VR-Brille simulierte Krankenhausumgebung, bei der bewusst Fehler ins jeweilige Szenario eingebaut wurden. „Zum Beispiel ein Patientenzimmer, in dem ein Nussjoghurt auf dem Nachttisch steht, obwohl in der Patientenakte eine Nussallergie vermerkt ist“, erklärt die Referentin.
Mithilfe von Sponsoring vier VR-Räume realisiert
Aktuell hält das System in Frankfurt vier verschiedene Räume vor, ein Szenario aus der Normalstation, ein OP-Szenario, eines aus der Intensivstation und eines aus der Notaufnahme. Eine Befragung unter Ärztinnen und Ärzten, Studierenden und Pflegenden ergab, dass alle den Room of Error als relevant für ihren Berufsalltag einstuften. „Sie gaben an, für die Fehlerwahrnehmung im Alltag sensibilisiert worden zu sein“, berichtet Dr. Sterz, „außerdem fanden Sie das Konzept technisch gut umgesetzt.“ Ihre Abteilung konnte das Projekt mit seinen vier VR-Räumen mithilfe von Sponsoring umsetzen.
Allerdings waren sich alle Referierenden beim Deutschen Kongress Chirurgie 2024 in Leipzig einig, dass Lehre und Trainings mithilfe von VR keine Leuchtturmprojekte an einzelnen Kliniken sein sollten, die für die breite Masse unerreichbar bleiben. „Wir müssen diese Möglichkeiten nach außen tragen und allen zur Verfügung stellen“, betont Prof. Rüsseler. „VR kann die chirurgische Weiterbildung gut ergänzen. Als Fach mit eher wenig Nachwuchs müssen wir uns hier aktiv einbringen.“
Kongressbericht: Deutscher Kongress Chirurgie 2024