Gefahrlos Kaffee kochen üben Kognitive Trainings für Schlaganfallpatienten im virtuellen Raum

e-Health Autor: Michael Reischmann

Der Vorteil der Virtuellen Realität ist, dass sie ortsungebunden genutzt werden kann und dass sie gefahrlose Trainings von Situationen und Kompetenzen erlaubt. Der Vorteil der Virtuellen Realität ist, dass sie ortsungebunden genutzt werden kann und dass sie gefahrlose Trainings von Situationen und Kompetenzen erlaubt. © Sergey Nivens – stock.adobe.com

Stärkt ein kognitives Training in immersiver virtueller Realität die Alltagskompetenzen von Patienten mit neurologischen oder psychiatrischen Erkrankungen? Ein deutsches Start-up ist fest davon überzeugt und lädt zum Üben in Garten, Küche und am Strand ein. 

Es ist eine dieser Geschichten, wo persönliche Betroffenheit dazu führt, eine Lösung für viele Menschen in ähnlicher Lage zu entwickeln. Motivation und Unterstützung ermöglichen es, ein kleines Unternehmen mit einem innovativen Angebot aufzubauen.

Allerdings: Lob allein reicht nicht. Der Weg zum Erfolg hat keine Abkürzung.

Julian Specht ist Mitgründer des Heidelberger Start-ups living brain. Seit seinem 10. Lebensjahr litt er unter einer Temporallappen-Epilepsie. Mit 18 sagen ihm seine Ärzte, dass er medikamentös austherapiert ist. Es bleibt eine Gehirn-OP – mit der Aussicht auf ein beschwerdefreies Leben und dem Risiko massiver kognitiver Einschränkungen. Specht fragt die Ärzte, was er tun kann, sollte es zu den Beeinträchtigungen kommen. Sie berichten von computergestützten Trainings sowie Labyrinthen und Zahlenreihen, die mit Stift auf Papier zu bearbeiten sind. 

Die Operation 2015 verläuft erfolgreich. Keine Beschwerden, keine Probleme. Als er seiner Kommilitonin Barbara Stegmann seine Geschichte erzählt, überlegen die beiden: Warum sind die Trainings so alltagsfremd („Klicken Sie die roten Fische im Schwarm an“)? Wie müsste eine kognitive Rehabilitation gestaltet sein, um Alltagskompetenzen wiederherzustellen? 

Neuronale Plastizität in der Rehabilitation

Sie sprechen mit Klinikärzten, Psychologen und Therapeuten darüber – und geben ihre Antwort darauf in der virtuellen Welt. Nach dem Psychologiestudium in Heidelberg gründen sie 2019 ihr Unternehmen. Gut zehn Leute arbeiten dort. Sie setzen mit ihrem Produkt „teora® mind“ auf Virtuelle Realität (VR) und auf die neuronale Plastizität, die Regenerationsfähigkeit von Nervensystem und Gehirn, bei der durch Reize neue Verbindungen geschaffen und gestärkt werden können. 

Der Vorteil der Virtuellen Realität ist, dass sie ortsunabhängig aufgesucht werden kann und dass sie gefahrlose Trainings von Situationen und Kompetenzen erlaubt, die real nur schwer möglich sind. Mehr als 500 Patienten bundesweit haben das System nach Unternehmensangaben bislang genutzt.

CEO und Mitgründerin Stegmann erklärt das Konzept: Die Kunden der living brain GmbH sind derzeit vor allem Reha-Kliniken und Ergotherapiepraxen im deutschsprachigen Raum, die z.B. Patienten nach Schlaganfall, Schädel-Hirn-Trauma oder Hirntumor betreuen. Expansionen sind vorbereitet. 2024 können auch erste Versicherte privater Krankenversicherungen – nach Anleitung durch ihren Therapeuten – direkte Nutzer zu Hause werden. 

Bei der Finanzierung auf Investoren angewiesen

Das Produkt umfasst ein VR-Equipment, die Software mit virtuellen Räumen und Trainings sowie ein Tablet, mit dem der Therapeut in Echtzeit sieht und begleitet, was der Patient in der VR-Umgebung tut. Die Kliniken mieten das Paket auf Jahresbasis. Das künftige Direkt-Angebot für Patienten wird rezeptbezogen abgerechnet werden. Eine Einheit dauert 30 bis maximal 45 Minuten. Trotz erster Umsätze ist das Unternehmen derzeit „durch Investoren finanziert“, sagt Stegmann.

Um bei Krankenversicherern Gehör zu finden, war es notwendig, das Produkt zertifizieren zu lassen. 18 Monate dauerte das. Die klinische Studie, die die Effektivität belegt, ist über die Produkt-Website abrufbar (teora-xr.de). Nicht ohne Stolz betont Stegmann nun: „Wir sind zertifizierter Medizinproduktehersteller.“ Schließlich handele es sich um kein Lifestyle-Produkt, sondern um eine Therapieanwendung, ein Klasse-2a-Medizinprodukt.

Was können Patienten damit konkret tun? Die Heidelberger entwickeln und programmieren virtuelle 3D-Umgebungen, in denen der Patient – ausgestattet mit einer VR-Brille und Controllern in den Händen – Aufgaben löst. So lässt sich im „Garten“ Handlungsplanung trainieren. Welche Schritte sind für eine erfolgreiche Saat, Pflege und Ernte vorzunehmen? In der „Küche“ sind z.B. beim Kaffeekochen oder Bestücken des Kühlschranks Aufmerksamkeit, Konzentration und Gedächtnis gefordert. In der „Strandbude“ heißt es, Eis, kalte Getränke und Milch­shakes zu verkaufen und dabei die kognitiven Fähigkeiten zu trainieren. Denn Bestellungen und Barzahlungen sind abzuwickeln: Wie hoch ist die Rechnung? Wie viel Geld ist zurückzugeben?

Am Beispiel der Strandbude macht Stegmann deutlich, wie das Team vorgeht. Es wurden Therapeuten befragt, welche Alltagsaufgaben Patienten Probleme bereiten und geübt werden sollten. Eine Antwort lautete: Kopfrechnen, speziell bei Bargeld. Dafür galt es nun Aufgaben zu entwickeln, die in einer motivierenden Umgebung zu absolvieren sind. Das ist mit dem Sommerurlaubsflair und dem Verkauf von Cola und Eiscreme clever gelungen.

Aber hilft es Menschen, die eine virtuelle Kaffeemaschine in der richtigen Reihenfolge in Betrieb nehmen auch, dasselbe real zu tun? „Wir sind überzeugt davon, dass der Transfer gelingt, sagt Stegmann. Das Problem sei allerdings, über berichtete Einzelfälle hinaus den wissenschaftlichen Nachweis zu führen. Denn dafür fehlten anerkannte Methoden und Parameter. 

Signifikant besser als ein Computertraining

Man habe tatsächlich schon selbst einen Parcours mit Tomatenpflanzen oder eine Waschmaschine aufgebaut, um den Transfer der virtuell geübten Handlungsplanungen real zu überprüfen. Das sei zwar positiv verlaufen, aber halt kein valider Evidenzbeweis. Bei der wissenschaftlichen Studie war es ausreichend, zeigen zu können, dass die eigene Software zu signifikant besseren Ergebnissen führt als das computergestützte Training der Vergleichsgruppe.

Das Ressentiment, dass VR-Brillen lästig schwer sind und nicht den niedrigschwelligen Komfort einer App auf dem Smartphone bieten, beeindruckt Stegmann nicht. Man stehe ja erst am Anfang einer Entwicklung. Die ersten Mobiltelefone seien auch klobig gewesen. Und so wie wir heute gelernt hätten, intuitiv das Smartphone zu nutzen, könne es auch in einigen Jahren mit den VR-Brillen der Fall sein. Viele bahnbrechende VR-Anwendungen werden wahrscheinlich erst noch erfunden. Auch der aktuelle Hype um die Künstliche Intelligenz könne sich hierbei positiv auswirken. Zurückhaltung sei eher bei Behandelnden und Angehörigen verbreitet als bei den Patienten. Letztere fragten in den Kliniken häufig nach, ob die Brille verfügbar sei, um zusätzliche Einheiten zu absolvieren. Die älteste zufriedene Nutzerin war übrigens 96 Jahre alt.

VR-Therapie im heimischen Umfeld

Die Inter Krankenversicherung AG ist der erste private Krankenversicherer, der seit dem 1. Februar 2024 für vollversicherte Kunden die Kosten für die VR-Therapiesoftware „teora mind“ des Heidelberger Startups living brain übernimmt – und das sowohl bei der Anwendung in der Praxis als auch bei der digital begleitenden Heimtherapie. Denn erstmals können Betroffene – nachdem sie den Umgang mit VR-Brille und Softwareanwendung erlernt haben - zuhause weiter trainieren. Behandelnde verfolgen die Fortschritte remote über eine Plattformanbindung. Versicherte reichen bei der Inter die ärztliche Verordnung ein, diese erstattet die Kosten gemäß Tarif im Rahmen physikalischer Maßnahmen. Das machten die beiden Unternehmen in einer Pressemitteilung bekannt.

aktualisiert am 07.02.2024 um 16:12 Uhr

Quelle: Medical-Tribune-Bericht