Telemedizin neu gedacht Wie hybride Patientenversorgung im ländlichen Raum funktioniert
Bei einem Besuch des Digitalen Facharzt- und Gesundheitszentrums (DFGZ) im westfälischen Olpe vermisst man die Eindrücke, die oft eine Arztpraxis ausmachen. Kein ständig klingelndes Telefon, kein volles Wartezimmer, keine überarbeiteten MFA hinter dem Tresen. Stattdessen erfolgt die Begrüßung im DFGZ durch die neueste Mitarbeiterin – KI-Avatar Charlie.
Avatar Charlie ist gebrieft. Sie weiß über die Abläufe im DFGZ Bescheid. Und sie kann Fragen beantworten und lernt auch täglich dazu. Erst hinter ihr befindet sich dann der Tresen im großen Eingangs- und Wartebereich. Hier erfolgt ein erster menschlicher Kontakt: Eine MFA händigt den Patientinnen und Patienten ein iPad aus. Alle notwendigen Formulare sind schon vorab geladen, auch Wegbeschreibungen und Zeitabläufe.
Doch was das DFGZ unter der Leitung von Stefan Spieren, Facharzt für Allgemeinmedizin und Allgemeinchirurgie, insbesondere ausmacht: Hier buchen sich Patientinnen und Patienten remote in die fachärztliche Sprechstunde ein. Anstatt Menschen 150 km durch die Weltgeschichte zu schicken, werden dank Telemedizin Daten versandt. Vor-Ort-Termine und -Gespräche gibt es nur bei wirklichem Bedarf.
Technisch möglich machen das die vielen Schnittstellen der Praxisprogramme. Der Avatar, das iPad und etliche andere Systeme sind durch das Terminbuchungssystem und vor allem die digitale Anamnese informiert. Das Tablet meldet auch, in welches der sieben Behandlungszimmer es zur Videosprechstunde geht. Muss noch Blut abgenommen, geimpft oder ein EKG geschrieben werden? Das übernimmt eine der speziell fortgebildeten MFA eigenständig. Und für Notfälle ist immer eine Ärztin bzw. ein Arzt anwesend.
Auch die Hausarztpraxis ist umfassend digitalisiert
Wie kam der Hausarzt Spieren zu diesem Konzept? Seit 2015 führen er und seine Frau Julia Spieren, Fachärztin für Allgemeinmedizin, eine Hausarztpraxis im westfälischen Wenden. In der Praxis im Sauerland arbeiten sechs Ärztinnen und Ärzte sowie sechs MFA bzw. Pflegekräfte.
Schon bei der Übernahme der Praxis digitalisierte Spieren konsequent. Ein Telefon gibt es seit Jahren nicht mehr, das übernimmt ein Voicebot. Online-Terminbuchungen sind für ihn „ein alter Hut“, digitale Anamnese macht er schon ewig. „Ich bin in der Hausarztpraxis sicherlich schon deutlich digitalisierter als die meisten anderen Praxen“, vermutet er. Auch Telekonsile zu einem neurochirurgischen und einem gynäkologischen Kollegen vermittelt er schon lange. Dann kam die Idee, „das alles“ im großen Stil anzubieten.
Seit September 2024 ist das DFGZ am Netz. Mit einem guten Dutzend Personen und Organisationen arbeiten sie zusammen, unter anderem der KV Westfalen-Lippe, dem Virtuellen Krankenhaus NRW in Hagen und diversen IT-Dienstleistern. Neben gynäkologischer und neurochirurgischer Verstärkung ist neuerdings auch ein Endokrinologe mit an Bord, weitere Fachärztinnen und Fachärzte sollen folgen. Angeboten werden derzeit unter anderem Termine für eine endokrinologische Laboruntersuchung, eine LDL-Cholesterin-Kontrolle, Impfungen, psychologische Beratung und Sprechstunden.
Bau und Einrichtung des Gesundheitszentrums finanzierte Spieren selbst. Das Kernstück des DFGZ, die steuernde Software, stammt von AmbulApps, einem CGM-Produkt. Die Praxisverwaltungssoftware ist aus dem Hause medatixx. Aktuell ist eine Internetverbindung über Satellit erforderlich, der Glasfaseranschluss ist bereits installiert und in Kürze betriebsbereit. Betreut wird das DFGZ vom Personal der Hausarztpraxis (und natürlich Charlie). Durch die tiefgreifende Digitalisierung der Einrichtungen können ortsunabhängig Tätigkeiten für beide Praxen ausgeführt werden.
Die Akzeptanz ist bereits heute sehr hoch
Trotz guten Feedbacks und vielen Unterstützern fährt das Zentrum noch mit „einigen angezogenen Handbremsen“, sagt Spieren. Über die technischen Hürden und Schwierigkeiten wusste man allerdings vorher Bescheid. „Wir wollten aber einfach anfangen, die Patientenakzeptanz ist jetzt schon sehr hoch“, erklärt der Mediziner. Stetig feilen er und sein Team weiter am Konzept, verbessern hier, bauen dort aus. Der Leiter des DFGZ ist ganz vorne mit dabei: Durch Kenntnisse in Medizininformatik stellt auch Programmieren kein Problem für ihn dar.
Befunde können einfach per Telekonsil besprochen werden
Dabei verfolgt er eine einfache Philosophie: Nicht für alle Dinge ist immer ein direkter Patientenkontakt notwendig. Vieles kann man bei Bedarf vor- und nachbereiten. Normalerweise müsste etwa ein Bewohner aus Olpe, der eine endokrinologische Beratung benötigt, schlimmstenfalls zwei Stunden Fahrzeit aufbringen und ggf. einen Urlaubstag nutzen. Dabei kann die Blutabnahme auch vor Ort erfolgen und der Befund per Telekonsil besprochen werden.
Rumpfschmerzen dagegen können durch Fragebögen und MRT-Bilder vorab beurteilt werden. Falls eine ambulante Operation nötig ist, wird zeitnah ein Termin vergeben. „Wir machen eigentlich nichts anderes als das, was wir schon seit Jahrzehnten als Hausärzte machen“, führt Spieren aus. „Wir beurteilen die Fälle und holen uns dann die Fachärzte zur Beurteilung digital dazu.“
Nicht alle Kolleginnen und Kollegen glauben an das Konzept. Ein Argument von Skeptikern sei, dass die Patientinnen und Patienten nicht mit der Technik klarkämen, so Spieren. Knapp dreieinhalbtausend Online-Terminbuchungen pro Monat sprächen eine andere Sprache – das könne also (fast) jeder.
„Dafür muss man aber auch was tun“, so Spieren. „Ich bin ein großer Fan davon, Patienten Dinge zu erklären.“ Sein Team bietet dafür Digital-Trainings an. Die Idee stammt von einer der MFA. Ein Smartphone als Voraussetzung reiche aus, ein bis zwei Trainingseinheiten genügten. Die meisten Terminbuchungen und Rezeptbestellungen werden am Wochenende und abends getätigt. „Die Leute bestellen ja bei Amazon auch, wenn sie im Bett liegen, oder abends vorm Fernseher“, sagt Spieren. Zur Patientenaufklärung über die elektronische Patientenakte ist schon eine Infoseite in Arbeit.
Die Digitalisierung spart dem Praxisteam viel Zeit, die nicht mit Däumchendrehen gefüllt wird. „Von dieser Zeit profitiert vor allem das Arzt-Patienten-Verhältnis, also das Wichtigste“, erklärt Spieren. Die Termine sind oft schon länger und persönlicher.
Zum Thema Vergütung hält sich Spieren knapp: „Das Vergütungssystem ist noch nicht so weit, wie wir es sind.“ Das DFGZ mache zumindest kein Minus. Vergütet werden die Telekonsile und die vorbereitenden Tätigkeiten wie Blutabnahme, EKG-Schreiben oder Impfen. Unvergütet bleibt die Zeit für Planung, Umsetzung und organisatorische Arbeit. „Dafür ist es ein Pilotprojekt und eine Überzeugung, die ich verfolge“, bekräftigt Spieren. Er ist mit Herz und Seele dabei. Die Work-Life-Balance sähe immer noch gut aus. „Ich habe ein motiviertes Team, das das mit abfängt“, erklärt der Mediziner.
Für die nahe Zukunft gibt es bereits Pläne: In Zusammenarbeit mit neuen Partnern und Kliniken werden weitere Fachrichtungen abgedeckt, neue Kooperationen entstehen. Spieren hat viele Ideen, doch die Umsetzung ist aufwendig: Beispielsweise könnten Patientinnen und Patienten künftig selbst ein 12-Kanal-EKG schreiben. Charlie könnte Befunde besprechen. Vielleicht gibt es anstelle von ChatGPT irgendwann MedGPT. Ein weiteres Zentrum nach dem Vorbild des DFGZ ist in Planung.
Quelle: Medical-Tribune-Bericht