DGIM 2023 – Insights zur Darm-Hirn-Achse

Im Rahmen des 129. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin 2023 erläuterte Prof. Dr. med. Andreas Stengel, leitender Oberarzt und stellvertretender ärztlicher Direktor am Universitätsklinikum Tübingen, die Therapie funktioneller Magen-Darm-Beschwerden im biopsychosozialen Gesamtmodell. Ein besonderer Fokus galt dabei der Berücksichtigung der Darm-Hirn-Achse, welche er im Nachgang in einem Interview vertiefte. Das komplette Interview mit Prof. Dr. Stengel finden Sie hier:

Fragen an Prof. Dr. med. Andreas Stengel im Rahmen des DGIM-Kongresses 2023

Die Darm-Hirn-Achse ist ein großes Forschungsgebiet. Worauf fokussieren sich hier die aktuellen Studien und Untersuchungen?

Aktuelle Studien fokussieren auf die beidseitige Verbindung von Darm und Gehirn, also sowohl auf die Verbindung vom Darm zum Gehirn aber eben auch auf die Verbindung vom Gehirn zum Darm. Neuere Studien beziehen oftmals hier auch das Mikrobiom mit ein, sodass von der Mikrobiom-Darm-Hirn-Achse gesprochen wird.

Welche Veränderungen an der Darm-Hirn-Achse sind für das Reizdarmsyndrom charakteristisch?

Die Darm-Hirn-Achse kann bei Patientinnen und Patienten mit Reizdarmsyndrom an sehr verschiedenen Stellen verändert sein. Dies wird in der Rom IV-Definition aufgegriffen, wo das Reizdarmsyndrom unter die „Disorders of the Brain-Gut-Interaction“ subsummiert ist. Veränderungen beim Reizdarmsyndrom finden wir sowohl auf Mikrobiom-, Darm- (z. B. veränderte Darmbarriere), Achsen- (z. B. Hypersensitivität) und Gehirnebene (z. B. veränderte Gehirnaktivität in Arealen, welche für affektive und Schmerzverarbeitung zuständig sind).

Welche therapeutischen Konsequenzen ergeben sich aus der Einordnung des Reizdarmsyndroms in das biopsychosoziale Gesamtmodell?

Das biopsychosoziale Gesamtmodell beschreibt die Komplexität der Krankheitsentstehung und -aufrechterhaltung für das Reizdarmsyndrom und bietet auch die Möglichkeit krankheitsbegünstigende und -vermindernde Faktoren in einem individuellen Modell zu erfassen. Dies führt dazu, dass es nicht die Reizdarmtherapie und meist auch nicht eine Monotherapie gibt, sondern dass das Reizdarmsyndrom multimodal adressiert werden sollte.

Können Sie an einem kurzen und knappen Beispiel zeigen, dass die Darm-Hirn- oder Hirn-Darm-Achse bidirektional ist?

Ein Schmerzreiz im Darm lässt sich auch mittels veränderter Gehirnaktivität ablesen. Umgekehrt sehen wir aber auch bei einer veränderten Schmerzprozessierung im Gehirn Veränderungen der Reaktion auf unangenehme und schmerzhafte Reize im Darm.

Entwickelt sich die Darm-Hirn-Achse im Laufe des Lebens weiter? Welche Faktoren könnten eine Entwicklung beeinflussen?

Die Darm-Hirn-Achse ist nicht statisch, sondern ein dynamisches Gebilde, welches auf Umweltreize, Nahrung aber auch psychosoziale Belastungen reagiert. Umgekehrt können wir aber auch z. B. mit einer gesunden Lebensführung und gesunder Ernährung günstig auf die Darm-Hirn-Achse einwirken.

Können Sie erklären, warum Frauen häufiger vom Reizdarmsyndrom betroffen sind als Männer?

Das ist eine gute Frage, die nicht abschließend geklärt ist. Womöglich sind Frauen gar nicht häufiger vom Reizdarmsyndrom betroffen, sondern stellen sich nur häufiger beim Arzt aufgrund der Beschwerden vor. Allerdings gibt es durchaus Hinweise auf eine hormonelle Beeinflussung der gastrointestinalen Funktion und entsprechenden Beschwerden. Nicht zuletzt wurde auch eine veränderte Schmerz- und affektive Verarbeitung von als stressig erlebten Signalen bei Frauen im Vergleich zu Männern beschrieben.

Wie ist die Bedeutung von "Leaky gut" in der Indikation Reizdarmsyndrom einzuordnen?

In der Tat wurde eine veränderte Darmbarriere bei Patientinnen und Patienten mit Reizdarmsyndrom beschrieben. Hierbei sind jedoch die transzelluläre und die parazelluläre Permeabilität teilweise unterschiedlich verändert. Es konnte keine klare Korrelation zwischen dem Ausmaß der Barrierestörung und dem Ausmaß der Beschwerdesymptomatik bei vom Reizdarmsyndrom Betroffenen gefunden werden. Insofern ist diese Beziehung zwischen Störung der Darmbarriere und Reizdarmbeschwerden komplex und bedarf weiterer Untersuchung.

Haben Sie einen Tipp für Ihre Kolleg*innen in der Praxis, speziell für Hausärzt*innen im Umgang mit Reizmagen- und Reizdarmpatient*innen?

Das medizinische Behandlungsverhältnis spielt gerade bei Patientinnen und Patienten mit Reizdarmsyndrom eine große Rolle und sollte entsprechend im Zentrum der Therapie stehen. Hierfür wird es natürlich künftig auch wichtig sein, dass auch die sprechenden Interventionen adäquat in der Vergütung abgebildet sind. Nicht zuletzt empfiehlt sich bei Betroffenen mit Reizdarmsyndrom vor dem Hintergrund der multimodalen Therapie oftmals eine Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Fachdisziplinen wie der Allgemeinmedizin, Gastroenterologie und Psychosomatik.

Interview mit Prof. Stengel im Rahmen des DGIM Symposiums 2023

„Darm-Hirn-Achse: Aus der Wissenschaft in die Praxis“ – Die Aufzeichnung des Symposiums mit Prof. Stengel und Prof. Allescher

Die Aufnahme des Symposiums zum Thema: „Darm-Hirn-Achse: Aus der Wissenschaft in die Praxis“ finden Sie hier.

Die Referenten Prof. Dr. med. Andreas Stengel, leitender Oberarzt und stellvertretender ärztlicher Direktor am Universitätsklinikum Tübingen und Prof. Dr. med. Hans-Dieter Allescher, Chefarzt am Zentrum für Innere Medizin, Gastroenterologie, Hepatologie, Stoffwechsel und Nephrologie, Klinikum Garmisch-Partenkirchen, diskutierten die aktuellen Erkenntnisse sowie Therapieoptionen bei funktionellen Magen-Darm-Beschwerden. Die Veranstaltung wurde moderiert von Prof. Dr. med. Dr. h.c. Peter Malfertheiner, Professor an der LMU.

Begrüßung | Prof. Dr. Peter Malfertheiner

Prof. Dr. Andreas Stengel

Prof. Dr. Hans-Dieter Allescher

Diskussion

Literatur:

Symposium „Darm-Hirn-Achse: Aus der Wissenschaft in die Praxis“, im Rahmen des DGIM 2023 (Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin).

Interview mit Prof. Dr. Andreas Stengel anlässlich des DGIM 2023