Behandeln im Grenzbereich Allgemeinärzte als Fels in der Brandung
Der Sohn eines 90-Jährigen rief die Hausärztin an, weil der Vater seit dem frühen Morgen mit Luftnot im Bett lag. Der alte Herr habe erzählt, nachts während eines Traumes ein heftiges Reißen in der Brust verspürt zu haben. Trotz dieses beunruhigenden Symptoms wolle er aber auf keinen Fall, dass der Rettungsdienst alarmiert werde.
Beim Hausbesuch klagte der Mann über mäßige thorakale Schmerzen, mit 100 Schlägen pro Minute war er tachykard. Über der Lunge fielen beidseits feuchte Rasselgeräusche auf, der Troponin-Schnelltest war positiv. Die Hausärztin vermutete eine Herzinsuffizienz infolge eines nächtlichen Myokardinfarkts. Doch auch sie konnte den Patienten nicht zur stationären Behandlung bewegen – lieber wolle er zu Hause sterben, beharrte dieser.
Mit zwei Hüben Nitroglycerin-Spray und angehobenem Oberkörper besserten sich Dyspnoe und Brustschmerz. Die Kollegin besprach mit dem Patienten sowie Sohn und Schwiegertochter, dass bei häuslicher Therapie mit Einschränkungen bis hin zum Tod zu rechnen sei. Dennoch lehnte der betagte Patient eine Einweisung mit der Begründung ab, dass er beim letzten Klinikaufenthalt ein Durchgangssyndrom erlitten habe. Zudem habe er große Sorge, allein ohne Angehörige im Krankenhaus sterben zu müssen.
Gemeinsam mit der Ärztin entschied sich die Familie für die bestmögliche hausärztliche Versorgung. Die Analyse der venösen Blutprobe ergab eine massive Erhöhung von Troponin T und proBNP, außerdem auch des Kreatinins. Die Kollegin passte die Behandlung an und kam zweimal wöchentlich zum Hausbesuch vorbei.
Der autoritäre paternalistische Arzt ist Vergangenheit
Das Befinden des Mannes besserte sich, bald konnte er sogar wieder Treppen steigen, was ihm sehr wichtig war. Die Thoraxschmerzen verschwanden, es blieb nur eine gelegentliche Dyspnoe. Mehr als sechs Monate nach dem Infarkt starb der Patient eines Nachts zu Hause.
In der Fallreflexion betont das Autorenteam um Dr. Nicole Lindner von der Abteilung für Allgemeinmedizin der Universität Marburg, dass der autoritäre paternalistische Arzt, der allein bestimmt, was zu tun ist, ohne jede Frage der Vergangenheit angehört. Auch in lebensbedrohlichen Situationen entscheiden Ärzte im Sinne des Shared Decision Making gemeinsam mit dem Patienten, welche Maßnahmen ergriffen werden sollen – im Fallbeispiel wählte man die häusliche Therapie. Die Kollegin habe ohne Frage die dringende Notwendigkeit der umgehenden Krankenhauseinweisung mit eventuell invasiver Abklärung gesehen, hatte aber die ausdrückliche Ablehnung diese Vorgehens anerkannt.
Letzten Endes ist es fraglich, ob die Klinikärzte dem 90-Jährigen überhaupt hätten helfen können. Womöglich wäre der alte Herr im Krankenhaus tatsächlich allein gestorben. So konnte er noch ein gutes halbes Jahr mit seiner Familie verbringen – die auch im Rückblick die Entscheidung für die häusliche Therapie positiv bewertet und froh darüber ist, noch einige Monate gemeinsam verbracht haben zu können.
Quelle: Lindner N et al. Hessisches Ärzteblatt 2022; 83: 154-160