Nationales Kompetenznetzwerk Alt und contergangeschädigt
Die Conterganstiftung weist aktuell 2215 Menschen mit pränatal erworbener pharmakogener Schädigung durch die thalidomidhaltige Substanz Contergan aus. Doch nicht nur Einschränkungen und Schmerzen kennzeichnen den Alltag der Betroffenen. Auch bei Diagnostik, Therapie und Pflege ergeben sich Herausforderungen, schreiben Anästhesist und Intensivmediziner Dr. Rudolf Beyer von der Schön-Klinik Hamburg und Kollegen.
Die Folgen einer Schlaftablette
Schon die einmalige Einnahme von Thalidomid während des ersten Schwangerschaftsdrittels führt zu komplexen Skelett- und Organfehlbildungen. Diese werden unter dem Begriff der Thalidomid-Embryopathie zusammengefasst. Als Ursprungsschäden gelten die vorwiegend bilateral auftretenden Hemmungsfehlbildungen der oberen und unteren Extremitäten. Daneben kommt es zu Fehlbildungen der Sinnesorgane, vor allem der Ohren, zu neurologischen Störungen wie z.B. Fazialisparesen und zu einer gestörten Anlage innerer Organe.
Die chronischen Schmerzen entstehen aufgrund von Skelettfehlbildungen: Deformationen der Gliedmaßen führen zu einer kompensatorischen Überbeanspruchung der Gelenke und Fehlhaltungen. Schmerzintensität und -dauer ähneln der von chronischen Schmerzpatienten, ebenso die funktionelle Beeinträchtigung. Die Mobilität wird durch den Alterungsprozess zusätzlich eingeschränkt.
Thalidomid-Embryopathie verdoppelt Sterblichkeit fast
Eine präventive Gesundheitsvorsorge durch Bewegung ist oft nur schwer möglich, das Risiko für lebensstilbedingte Erkrankungen wie Hypertonie, Adipositas und Dyslipidämie steigt. Ob zusätzlich ein conterganbedingtes erhöhtes kardiovaskuläres Risiko vorliegt, wird diskutiert. Insgesamt liegt die Sterblichkeit im Vergleich zur altersgleichen Allgemeinbevölkerung etwa 1,7-fach höher.
Gleichzeitig erschwert die veränderte Anatomie diagnostische und therapeutische Maßnahmen, z.B. die Blutdruckmessung am Oberarm. Da häufig die Arteria radialis nicht ausgebildet ist, fehlt zudem ein wichtiger Zugangsweg für Herzkatheter oder arterielle Sonde.
Weitere Folgeschäden bei Thalidomid-Embryopathie beziehen sich auf die psychosozialen Beeinträchtigungen und eine eingeschränkte gesundheitsbezogene Lebensqualität. Im Alter nimmt die Fähigkeit zur Selbstversorgung ab, auf die Bedürfnisse angepasste Pflegezimmer sind notwendig, evtl. auch Assistenzpersonen zur Unterstützung.
Um eine adäquate medizinische Versorgung zu gewährleisten, wurden 2021 auf Initiative der Interessenverbände Contergangeschädigter multidisziplinäre Schwerpunktzentren gegründet:
- Dr. Becker Rhein-Sieg-Klinik, Nürnbrecht (West)
- Klinik Hoher Meissner, Bad Sooden-Allendorf (Mitte)
- Schön Klinik Hamburg
- DIAKOVERE Annastift, Hannover
An der Uniklinik Köln wird zudem eine psychotherapeutische Contergansprechstunde angeboten. Weitere Zentren sollen Versorgung und den Informationsaustausch weiter verbessern – anteilig finanziert durch die Conterganstiftung des Bundes.
Ausbaufähig innerhalb des Netzwerks ist nach Aussage der Autoren das Angebot an neurologischer, odontologischer und HNO-ärztlicher Expertise. Gefordert wird auch mehr spezialisierte psychotherapeutische Unterstützung: Contergangeschädigte leiden etwa doppelt so häufig an psychischen Störungen wie die altersgleiche Allgemeinbevölkerung. Neben Betroffenen können sich auch Angehörige und Ärzte an das Kompetenznetzwerk Contergan wenden.
Quelle: Beyer R et al. Dtsch Med Wochenschr 2022; 147: 1281-1285; DOI: 10.1055/a-1893-0221