60 Jahre nach dem Skandal: Internistische Folgen des Contergans
Von 1957 bis 1961 wurde Contergan (Thalidomid) Schwangeren verschrieben – bekanntermaßen nicht ohne Folgen für ihren Nachwuchs. In Deutschland leben aktuell noch 2400 Geschädigte. Kollegen sehen sie meist erst sehr spät in ihrer Praxis. Viele Betroffene haben im Laufe ihres Lebens Erfahrungen mit Kliniken und Ärzten gemacht, die bei vielen zu einem Arztvermeidungsverhalten geführt haben, schreibt Dr. Rudolf Beyer von der Contergan-Sprechstunde der Schön Klinik Stiftung für Gesundheit in Hamburg. Diese Strategie funktioniere mit dem Älterwerden jedoch immer schlechter.
Den Patienten stehen mittlerweile spezielle interdisziplinäre Sprechstunden zur Verfügung. Wer Contergangeschädigte behandelt, muss viel Zeit mitbringen. Im Schnitt beträgt die Arztkontaktzeit in der Hamburger Schön Klinik während der Erstvorstellung etwa 1,5 Stunden. Das liegt nicht zuletzt an den komplexen und individuell sehr unterschiedlichen Fehlbildungen. Neben den offensichtlichen sind mitunter auch innere Organe und das Nervensystem geschädigt.
Bemerkbar machen sich die Folgen der Behinderung zunächst aber am Bewegungsapparat. Ähnlich wie bei manchen Spitzensportlern führe die lebenslange körperliche Integrationsleistung zu einer massiven Degeneration von Knochen, Bändern und Gelenken, weiß der Experte. Im Vordergrund steht aufgrund der zu kurzen Arme der chronisch überlastete Schultergürtel. Immobilisierende Schmerzen des Muskelbandapparats betreffen fast alle. Karpaltunnelsyndrom und Arthrose der Finger führen zu einem fortschreitenden Verlust der Selbstständigkeit, so der Kollege.
Indikation zum Gelenkersatz wird zurückhaltend gestellt
Häufig sind auch angeborene Hüftdysplasien bei den Patienten zu finden und in der Folge frühzeitige Arthrosen. Für die Therapie stehen konservative Maßnahmen wie Physio- und Ergotherapie weit im Vordergrund. Die Indikation zum operativen Gelenkersatz werde u.a. aufgrund der eingeschränkten Rehabilitationsmöglichkeiten nur sehr spät und vorsichtig gestellt.
Ähnlich wie bei ihren Altersgenossen der Allgemeinbevölkerung schießt das Risiko für Herz-Kreislauf- und Stoffwechselerkrankungen in die Höhe. Jedoch weisen Menschen mit Conterganschäden vermutlich öfter eine nicht diagnostizierte Hypertonie und damit verbundene Folgeerkrankungen auf. Laut einer japanischen Studie leiden 46,7 % an Bluthochdruck. Für Kollegen bringt das auch in ganz praktischer Hinsicht Herausforderungen mit sich. Vergleichsweise einfache Maßnahmen wie Blutentnahmen nehmen mitunter einige Zeit in Anspruch. Und wie führt man bei einem Menschen ohne Arme eine Riva-Rocci-Messung durch? Liegend am Knöchel und über der Arteria tibialis posterior, empfiehlt Dr. Beyer. Allerdings muss dabei ein Korrekturfaktor verwendet werden. Diastolische Blutdruckwerte sind ungenau und deshalb nur eingeschränkt für Therapieentscheidungen nutzbar.
In einer brasilianischen Studie wurde zudem gezeigt, dass auch kardiovaskuläre Erkrankungen überdurchschnittlich häufig auftreten. Was wahrscheinlich u.a. der Tatsache geschuldet ist, dass eine der wichtigsten Präventionsmaßnahmen gegen KHK, Übergewicht und Typ-2-Diabetes für Contergangeschädigte nur sehr eingeschränkt möglich ist – Sport und regelmäßige körperliche Bewegung. Deshalb untersuchen die Kollegen der Schön Klinik alle Betroffenen auf etwaige Endorganschäden von Herzen, Nieren, Augen und Gefäßen.
Vorkommen begleitender internistischer Krankheiten | |
---|---|
Bluthochdruck | 46,7 % |
Fettleber | 52,6 % |
nicht-alkoholische Fettleber | 35,0 % |
Adipositas | 24,2 % |
Fettstoffwechselstörung | 23,7 % |
gestörter Nüchtern-BZ | 18,4 % |
Diabetes mellitus | 5,0 % |
linksventrikuläre Hypertrophie | 17,1 % |
Hyperurikämie | 21,1 % |
Psychische Störungen doppelt so häufig
Überdurchschnittlich häufig ist noch eine ganz andere Form von Leiden: Die Rate psychischer Störungen liegt doppelt so hoch wie in der Allgemeinbevölkerung. Das gilt laut einer Untersuchung sowohl für Depressionen, somatoforme Störungen, Phobien und Alkoholsucht. Psychosoziale Hilfsangebote werden gleichzeitig selten wahrgenommen.
Wie bei vielen seltenen Erkrankungen fehlt es an wissenschaftlich begründeten Behandlungsstrategien, bedauert der Autor. Er hofft zusammen mit dem Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf dies zu ändern.
Quelle Text und untere Abb.: Beyer R. Hamburger Ärzteblatt 2018; 72: 28-31 © Hamburger Ärzteverlag, Hamburg