Rücken-OP Bei Wirbelsäulenchirurgen sitzt das Skalpell locker

Schmerz- & Palliativtag 2024 Autor: Dr. Anja Braunwarth

Ein positives Zweitmeinungsvotum vor jeder Wirbelsäulenoperation sollte die Voraussetzung dafür sein, dass die Kassen die Kosten für den Eingriff übernehmen. Ein positives Zweitmeinungsvotum vor jeder Wirbelsäulenoperation sollte die Voraussetzung dafür sein, dass die Kassen die Kosten für den Eingriff übernehmen. © georgerudy – stock.adobe.com

Die Zahl der Menschen mit Rückenschmerzen nimmt stetig zu. Parallel dazu steigt die Zahl der Wirbelsäulenoperationen kontinuierlich. Deren Nutzen ziehen Experten ernsthaft in Zweifel.

Einem Ergebnisbericht des Gemeinsamen Bundesausschusses zufolge haben Rückenschmerzen eine Sieben-Tages-Prävalenz von fast 15 Mio., das entspricht einem Drittel aller Erwerbstätigen. Die Zwölf-Monats-Prävalenz liegt bei 51 Mio. –  61 % der Gesamtbevölkerung. Mit der Zahl der Rückenschmerzpatienten steigt die Zahl an MRT-Untersuchungen, nach jüngsten Daten sind es 11,6 Mio. pro Jahr.

Wenig überraschend beobachtet man parallel eine enorme Zunahme an Rückenoperationen, wie PD Dr. Michael Überall vom Institut für Neurowissenschaften, Algesiologie & Pädiatrie in Nürnberg berichtete. Zwischen 2006 und 2019 gab es eine Steigerung um 100 %. Coronabedingt flachte die Kurve seit 2020 zwar ab, erste Erfassungen und Hochrechnungen zeigen aber, dass sie sich nun steil in Richtung 140%igen Zuwachs bewegt. 

OP-Indikation bei über 95 % abgelehnt

Ob das nur viel oder auch zu viel ist, untersucht Dr. Überall mit seinem Team der Integrative Managed Care GmbH in Limburg. 2010 haben die Kollegen ein Zweitmeinungsprogramm initiiert. Mitglieder angeschlossener Vertragskassen können sich im Rahmen eines integrierten Versorgungsvertrages mit einer Überweisung zur OP dort vorab eine zweite Meinung einholen. Die Evaluation erfolgt an 36 Schmerzzentren interdisziplinär durch ein Team aus Schmerz-, Physio- und Psychotherapeuten. Kommt es zu dem Schluss, dass eine OP nicht nötig ist, bietet es als Alternative eine multimodale ambulante Schmerztherapie über drei Wochen bis drei Monate an.

Zwischen 2010 und 2022 sahen die Experten 9.701 Patienten, das Durchschnittsalter lag bei 52,7 Jahren, 60 % waren Frauen. Bei 95,5 % der Untersuchten wurde die OP-Indikation abgelehnt. Über die Jahre hinweg nahm die Zustimmung immer mehr ab, im Jahr 2022 bestätigten die Experten eine OP-Notwendigkeit nur noch bei 1,9 % der Patienten.

Knapp zwei Drittel der Kranken nahmen das Angebot der multimodalen Therapie außerhalb der Regelversorgung an. Bleibt natürlich die Frage, ob die Einschätzung des Teams stimmte. Dazu präsentierte Dr. Überall die Daten aus 2022. Von 1.057 in diesem Jahr geprüften Fällen mussten 12 % schließlich doch noch operiert werden, nimmt man 2023 hinzu, lag die Quote bei 13,6 %. Das heißt, bei der überwiegenden Mehrheit war die Beurteilung richtig. Und damit heißt die Antwort auf die Frage, ob in Deutschland zu viel am Rücken operiert wird, laut Dr. Überall eindeutig ja.

Über die Gründe dafür kann man nur spekulieren. Evtl. sind die Möglichkeiten der interdisziplinären multimodalen Therapie zu wenig bekannt. Vielleicht lassen sie sich aber auch nur schwer übermitteln und eine OP bietet den Patienten die einfachere und schnellere Lösung. Doch egal, was dahintersteckt, die Forderung von Dr. Überall und seinen Kollegen lautet generell: Ein positives Zweitmeinungsvotum vor jeder Wirbelsäulenoperation sollte die Voraussetzung dafür sein, dass die Kassen die Kosten für den Eingriff übernehmen.

Quelle: Deutscher Schmerz- und Palliativtag 2024