Coronapandemie: „Das generelle Stoppen klinischer Studien ist unverhältnismäßig“

Interview Autor: Ulrike Viegener

Virionen von SARS-CoV-2 ­haben einen Durchmesser von 80–140 nm. Mit rund 30 Kilo­basen besitzen sie das größte ­bekannte Genom von RNA-Viren. Virionen von SARS-CoV-2 ­haben einen Durchmesser von 80–140 nm. Mit rund 30 Kilo­basen besitzen sie das größte ­bekannte Genom von RNA-Viren. © Yury – stock.adobe.com

Professor Dr. Anke Reinacher-Schick aus Bochum hat in diesem Jahr gemeinsam mit Dr. Eray Gökkurt, Hamburg, den virtuellen AIO-Herbstkongress geleitet. Im Interview berichtet sie von den Auswirkungen der Corona-Pandemie auf den wissenschaftlichen Betrieb in der Onkologie.

Wie sind Sie bei der Kongress­planung vorgegangen, um sicher zu stellen, dass Wissenstransfer und Austausch trotz der „verschärften“ Rahmenbedingungen möglichst gut funktionieren?
Professor Dr. Anke Reinacher-Schick:
Insgesamt ist die Organisation eines virtuellen Kongresses herausfordernder und auch komplexer als ein Präsenzkongress. Sowohl die wissenschaftlichen Inhalte als auch die neuen Entwicklungen zu den aktuellen AIO Studien mussten nicht nur vermittelt, sondern auch online diskutiert werden. Dies ist virtuell natürlich schwieriger als in persönlichen Treffen.

Für den einzelnen Referenten und die einzelnen Arbeitsgruppen galt: Während man sonst Vorträge und Folien mal eben am Abend im Hotel zusammenstellt und auch Inhalte noch kurz vor einer Sitzung diskutieren kann, müssen Folien und Vorträge bei einem virtuellen Kongress vorab gesammelt und abgestimmt werden. Auch die Abläufe der Sitzungen müssen frühzeitig ausgearbeitet und choreographiert werden, die Planung der Sitzungen muss viel detaillierter erfolgen, um einen reibungslosen Ablauf zu gewährleisten.

Wenn man nicht persönlich miteinander sprechen kann, ist es um so wichtiger, mit jedem einzelnen aktiven Teilnehmer häufiger zu sprechen. Zusätzliche Termine für das Briefing und für die Einweisung der Wissenschaftler in die digitale Vortragswelt sind notwendig. Dies war in den letzten Wochen doch recht herausfordernd für alle Beteiligten, allen voran für die Kolleginnen und Kollegen in den Kliniken und Praxen der verschiedenen AIO-Zentren, die teils sehr akut mit der Versorgung der Patienten während der zweiten Welle zu kämpfen hatten.

Während man sich sonst während der drei Tage des AIO-Herbstkongresses voll und ganz auf die Themen und Inhalte der AIO- Studienarbeit und unsere politischen Themen konzentrieren kann und die Zeit intensiv für den persönlichen Austausch mit den Kollegen nutzt, fand der Kongress für viele in diesem Jahr von den Kliniken, aus den Praxen, von der regulären Arbeit aus statt. Viele Kollegen waren, vor allem am Freitag, im Kittel, teils noch mit Maske an den Bildschirmen zu sehen.

Wie sind Ihre Erfahrungen mit virtuellen Kongressen? Funktioniert das Konzept? Und wie wird es von der onkologischen Community angenommen?
Prof. Reinacher-Schick:
In der Tat haben wir alle im Laufe des Jahres die verschiedensten virtuellen Formate kennengelernt und sind mittlerweile fast Experten für Online-Kongresse. Am einfachsten scheint der eigentliche Wissenstransfer virtuell machbar zu sein. Auch der Austausch im Rahmen bekannter Arbeits- und Studiengruppen ist mit Abstrichen möglich, wobei echte Diskussionen online weniger intensiv zustande kommen, als wenn man sich persönlich gegenübersitzt.

Was sicherlich schwierig ist, ist das sogenannte Netzwerken, das ja auch ein nicht unerhebliches Ziel der Kongressbesuche der Vergangenheit war. Hier versucht man sich, mit sogenannten virtuellen Break-out-Räumen zu behelfen, in denen sich Kolleginnen und Kollegen recht spontan zusammenfinden können. Die meisten Kollegen, vor allem diejenigen, die aktiv in der klinischen Forschung arbeiten, sind mit dem Prinzip virtueller Besprechungen vertraut und kommen mit einem solchen Format gut zurecht. Manch älterer Kollege, dem der Zugang zu modernen Medien schwerer fällt, tut sich da wahrscheinlich etwas schwerer.

Insgesamt ist die Teilnahme an Diskussionen oder auch das Einbringen eigener wissenschaftlicher Ideen von bisher nicht so in Arbeitsgruppen integrierten jungen Nachwuchswissenschaftlern schwerer möglich. Um mit anderen Arbeitsgruppen oder Wissenschaftlern in Kontakt zu kommen, ist ein persönlicher Kontakt nahezu unerlässlich.

Immerhin ermöglichen uns diese virtuellen Formate in Zeiten, in denen Präsenzveranstaltungen nicht möglich sind, im Austausch mit der „onkologischen Community“ zu bleiben und sind in jedem Fall eine sinnvolle Bereicherung der Studienarbeit. Sicherlich wird auch in Zukunft über solche Wege ein schnellerer und unkonventionellerer Austausch stattfinden.

Man kann sich heute schon gar nicht mehr vorstellen, dass Tausende von Kollegen beispielsweise zum ASCO nach Chicago reisen. Vermutlich wird es zukünftig Hybridveranstaltungen geben mit dem persönlichen Austausch für bestimmte Inhalte vor Ort in kleineren Gruppen und dem hauptsächlichen reinen Wissenstransfer online. Das Einbeziehen und die Förderung unseres Nachwuchses wird sicherlich in Präsenz stattfinden müssen. So wie neue Ideen und neue Konzepte fast nur im persönlichen Austausch entwickelt werden können.

Infolge der COVID-19-­Pandemie wurden onkologische Studien zum Teil auf Eis gelegt bzw. gestoppt ...
Prof. Reinacher-Schick:
Ja, im Rahmen der ersten Welle wurde in dieser für alle höchst unsicheren Situation zunächst der Einschluss neuer Patienten in klinische Studien ausgesetzt, zumindest deutlich reduziert. Man stellte die Sprechstunden zur Reduktion von Kontakten auf virtuelle oder Telefon-Formate um und dies betraf natürlich auch die Studienpatienten. Auch Monitorbesuche waren nicht möglich. Allerdings ist es besonders bei Krebspatienten essenziell, dass die Versorgung, Diagnostik und Behandlung nicht unterbrochen oder verzögert wird.

Die Prognose der Patienten kann sich deutlich verschlechtern, wenn die Erkrankung später erkannt und behandelt wird. So sollen weder notwendige Operationen verschoben noch medikamentöse oder sonstige Therapie ausgesetzt oder verzögert werden. Dies ist jedoch vielfach während der ersten Welle geschehen. Man hat festgestellt, dass vor allem Vor- und Nachsorgeuntersuchungen betroffen waren sowie supportive und palliativmedizinische Behandlungen und Angebote.

Bereits früh hat zum einen die Task Force aus Deutscher Krebshilfe, Deutscher Krebsgesellschaft und NCT hierauf aufmerksam gemacht. Darüber hinaus haben Fachgesellschaften wie die ESMO festgehalten, dass eben auch ein generelles Stoppen klinischer onkologischer Studien einen unverhältnismäßigen Schritt darstellt und dass dies einen „Kollateralschaden“ für onkologische Patienten bedeutet, der nicht vertretbar ist. Über den Sommer hinweg hat die Studienarbeit international wieder deutlich zugenommen. Allerdings ist es nicht von der Hand zu weisen, dass einerseits die Bereitschaft von Patienten an klinischen Studien teilzunehmen, die sonst nicht notwendige Vorstellungen in der Klinik erfordern, deutlich abgenommen hat. Ebenso wie die Tatsache, dass natürlich ein gewisses Risiko auch für Studienpatienten besteht, sich im Krankenhaus zu infizieren. Insbesondere unsere gefährdeten Krebspatienten in den Kliniken und Praxen zu schützen, erfordert einen hohen logistischen Aufwand und bindet vermehrt Personal.

Gerade in jüngster Zeit erlebt die Onkologie einen großen Innovationsschub. Ist zu befürchten, dass COVID-19­­ den Transfer in den klinischen Alltag behindert?
Prof. Reinacher-Schick:
Über die vielfältigen Aktivitäten der AIO und der AIO-Studien sehen wir, dass die klinische Forschung in der Onkologie mittelfristig fast keinen Einbruch durch die Pandemie erfahren hat. Laufende klinische Studien wurden, so gut es geht, fortgesetzt und neue Studien vorangetrieben. Allerdings wissen wir noch nicht, wie es während der nun grassierenden zweiten Welle sein wird. Die meisten Kliniken und Praxen haben mit dem nun ausgesetzten Rettungsschirm auch mit finanziellen Problemen zu kämpfen. Da geht natürlich die reine Patientenversorgung vor, die klinische Forschung kann zu kurz kommen.

Ein Teil der wissenschaftlichen Kapazitäten wird aktuell darauf verwendet, die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Onkologie, auf onkologische Patienten zu untersuchen. Neben den rein medizinischen Themen werden interessante ethische Aspekte diskutiert und erforscht wie die sinnvolle Ressourcenallokation im Gesundheitswesen und die adäquate Versorgung onkologischer Patienten in Zeiten der Pandemie.

Ich bin überzeugt, dass nach einer kurzen Zäsur im Frühjahr der Fortschritt in der Onkologie auch während der Pandemie nicht nachhaltig gebremst wurde und wird. Projekte und Studien werden konzipiert und gestartet, wenn auch unter erschwerten Bedingungen. Die fördernde Pharmaindustrie und unsere öffentlichen Fördereinrichtungen sind dabei eine große Unterstützung.

Natürlich sind manche Kliniken sehr stark in die Behandlung von Corona-Patienten eingebunden und können sich nicht in dem Maße der klinischen Forschung widmen. In diesem Kontext spürt man schon deutlich die Belastung der Kollegen vor Ort und die mangelnde Kapazität für Projekte neben der klinische Arbeit. Hier profitieren wir in den AIO-Studien auch sehr von den Schwerpunktpraxen, die natürlich ausschließlich auf die Versorgung von Tumorpatienten konzentriert sind.

Auch in der Onkologie wird sich eine Art neue Normalität etablieren müssen. Was sind sinnvolle Strategien, um in Coronazeiten onkologischen Fortschritt und onkologische Versorgungsqualität zu garantieren?
Prof. Reinacher-Schick:
Eine systematische Erhebung der aktuellen Versorgungssituation zur Bewertung der Lage ist dringend notwendig und in Deutschland bisher flächendeckend nicht erfolgt, wenn auch die o.g. Task Force sehr gute Arbeit mit Daten überwiegend der Spitzenzentren erhoben hat. Wir selbst haben großes Interesse daran, die Versorgung von Tumorpatienten in solchen Ausnahmesituationen und mögliche Defizite zu erfassen, im Verlauf ethisch zu bewerten und Handlungsempfehlungen zu entwickeln.

Auch die psychische Belastung von Patienten und Behandlern darf nicht außer Acht gelassen werden. Hierzu haben wir in der AIO gemeinsam mit Kollegen aus Dresden und Halle ein BMBF-gefördertes Projekt zur Ressourcenallokation in Zeiten der Pandemie gestartet (Cancer­COVID). Ziel des Konsortiums ist es, auf der Basis dieser wissenschaftlichen Ergebnisse in Diskussion mit Entscheidungsträgern aus Onkologie und Gesundheits­politik empirisch und ethisch fundierte Handlungsempfehlungen zur Ressourcenallokation von onkologischen Patienten bei Ressourcenknappheit zu entwickeln.

In meinem klinischen Alltag erlebe ich jeden Tag, wie sehr sowohl unsere Mitarbeiter wie auch die Patienten durch die besondere Situation belastet sind. Ein Leitfaden, an dem man sich orientieren kann, würde zumindest die Planbarkeit verbessern und könnte Unsicherheiten ausräumen.

Es wird immer wieder betont, dass die Krebserkrankung für Patienten gefährlicher sei als COVID-19. Gilt das uneingeschränkt?
Prof. Reinacher-Schick:
Natürlich können solche Aussagen nie verallgemeinert werden. Zu beachten ist in jedem Fall, dass ein generelles Absagen von Terminen zu Diagnostik und Therapie onkologischer Patienten aus Infektionsschutzgründen sicherlich nicht vertretbar ist. Für viele unserer Patienten würde dies mit großer Sicherheit ein Fortschreiten der Erkrankung bedeuten, wodurch das Überleben maßgeblich verkürzt werden kann. Die Kollegen der Onkopedia-Leitlinie der DGHO haben sehr rasch und umfassend Empfehlungen zur Behandlung von Tumorpatienten während der Pandemie veröffentlicht, an denen sich sehr viele orientieren.

Andererseits muss natürlich ein erhöhtes Risiko eines schweren Verlaufes einer SARS-CoV-2-Infektion bedacht werden. Auch dieses Risiko ist individuell für jeden Patienten zu bewerten und ist abhängig von Alter, Begleiterkrankungen sowie der zugrunde liegenden onkologischen Erkrankung. Hier spiegelt sich das Dilemma wider, in dem wir uns aktuell jeden Tag befinden: Bei jedem Patienten wird eine Risiko-Nutzen-Abwägung durchgeführt, wodurch der klinische Alltag in seinem Ablauf deutlich komplizierter wird. Hinzu kommt, dass parallel die Ressourcen in der Klinik schwinden, sowohl bei den Bettenkapazitäten wie auch vor allem personell, bei den Mitarbeitern.

Die meisten Mitarbeiter sind mittlerweile erschöpft, die Pandemie dauert schon viel zu lange an. Für uns alle, Patienten, Angehörige sowie medizinisches Personal ist dies eine Situation, die ein unglaubliches Maß an Rücksicht, Geduld und Engagement fordert und das jeden Tag! Deshalb möchte ich allen, die sich in so besonderem Maße für unsere Tumorpatienten einsetzen, herzlich für ihr großes Engagement danken.

Quelle: Interview

Prof. Dr. Anke Reinacher-Schick, Chefärztin Hämatologie, Onkologie und Palliativ­medizin, Katholisches Klinikum Bochum und Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Internistische Onkologie (AIO) in der DKG e.V. Prof. Dr. Anke Reinacher-Schick, Chefärztin Hämatologie, Onkologie und Palliativ­medizin, Katholisches Klinikum Bochum und Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Internistische Onkologie (AIO) in der DKG e.V. © Katholisches Klinikum Bochum