Pflegende Angehörige Deutschlands größter „Pflegedienst“ in Nöten
Aufgrund des Zusammentreffens von zeitlicher, finanzieller und emotionaler Belastung tragen pflegende Verwandte ein besonders hohes Risiko, selbst gesundheitlich Schaden zu nehmen. Eine zentrale Rolle bei der Diagnose von Überforderung kommt dem Hausarzt zu. Er muss die versteckten Anzeichen bemerken, denn meist sprechen Betroffene das Thema nicht von alleine an, schreiben Yvonne Marx und Koautoren vom Institut für Allgemeinmedizin der Universität Halle-Wittenberg.
Verdächtig sind neben unspezifischen Beschwerden wie Kopf-, Rücken- und Bauchschmerzen auch Rhythmusstörungen und erhöhte Blutdruckwerte. Ebenso kann eine Kombination vieler Symptome ohne organisches Korrelat von der belastenden Situation herrühren. In der Praxis fallen oft Konsultationen mit vorgeschobenem Anlass (z.B. Beziehungs- oder berufliche Probleme) auf. Auch Veränderungen von Mimik, Gestik und Verhalten sollten Verdacht wecken (s. Tabelle).
Warnzeichen und Signale einer pflegebedingten Überlastung
- Konsultation mit vorgeschobenem Anlass
- häufige Kopfschmerzen
- häufige Rückenschmerzen (akut/chronisch)
- Depressionszeichen
- Erschöpfung
- Schlafstörungen
- Bauchschmerzen
- Magenbeschwerden
- Somatisierung
- Stimmungslabilität
- trauriger, erschöpfter Gesichtsausdruck
- Aufstöhnen, Seufzen, Weinen
- hängende Schulter, gebückte Haltung
- aggressiver Tonfall
- verändertes Auftreten
Überlastung von Angehörigen aktiv thematisieren
Auf der Suche nach Ansatzpunkten für Verbesserungen interviewte das Autorenteam zwölf Hausärzte. Klar im Vorteil sind demnach Kollegen, die die Familienverhältnisse von Betroffenen gut kennen und etwa durch Hausbesuche Einblick in die Situation haben. Um Überforderung von Anfang an zu vermeiden, sollte man Angehörige bereits beim ersten Pflegegespräch darauf hinweisen, dass sie sich selbst nicht vergessen dürfen und Hilfe in Anspruch nehmen können. Treten dennoch erste Anzeichen einer Überlastungen auf, raten die Kollegen dazu, dies aktiv zu thematisieren und empfehlen ein mindestens zehnminütiges Gespräch. Da sich Angehörige im Beisein der Pflegebedürftigen häufig zurücknehmen, sollte dies in einem separaten Sprechstundentermin ermöglicht werden.
Ein häufiges Problem in der täglichen Praxis ist, dass entlastende Angebote bewusst nicht in Anspruch genommen werden. Viele Angehörige und/oder pflegebedürftige Personen lehnen fremde Hilfe oder ein fremdes Umfeld ab. Pflegen Kinder ihre Eltern, stehen oft Autoritätsfragen einer Umsetzung im Wege. Ein weiteres Problemfeld ist den Kollegen zufolge mangelnde Adhärenz zu hausärztlichen Empfehlungen. Eigenmächtiges Handeln könne beispielsweise gefährlich werden, wenn die betreuenden Laien es nicht schaffen, einen Patienten fachgerecht zu lagern und dadurch ein Dekubitus entsteht.
Hausärzte fühlen sich vollumfänglich zuständig
Nicht zuletzt ist das hausärztliche Rollenverständnis bei diesem komplexen Thema von Bedeutung. Die meisten der interviewten Kollegen fühlten sich vollumfänglich zuständig für die Begleitung der Angehörigen, so die Autoren. Dank einer ganzheitlichen Sicht auf den Patienten, Kenntnis des familiären Umfelds und ärztlicher Erfahrung seien sie im Stande, Maßnahmen zu koordinieren.
Für eine umfassende Betreuung müssen sich jedoch alle beteiligten Akteure vernetzen. Hierzu gehört auch die aktive Kommunikation und Kooperation zwischen Pflegediensten, Pflegeberatung und Hausarztpraxen, die nach Einschätzung der Autoren noch zu wenig erfolgt.
Quelle: Marx Y et al. Z Gerontol Geriatr 2023; 56: 23-28; DOI: 10.1007/s00391-021-02000-8
Leitlinie bietet weitere Info
Zur Vertiefung des Themas verweisen die Autoren auf die DEGAM-Leitlinie „Pflegende Angehörige“, AWMF-Register-Nr. 053-0006. Diese empfiehlt beispielsweise Assessments bei Übernahme einer Pflegetätigkeit und im weiteren Verlauf. Als Instrument zur Einschätzung der Situation wird die Häusliche Pflege-Skala erläutert.