Migräne Diagnostik und Therapie endlich in Fahrt bringen
Viele Ärzte können mit Migränepatienten nichts anfangen, d.h., sie wissen gar nicht, was sie mit ihnen tun sollen, kritisierte Professor Dr. Dagny Holle-Lee vom Westdeutschen Kopfschmerzzentrum am Universitätsklinikum Essen. Die Kollegin berichtete über eine Untersuchung aus zwölf Kopfschmerzzentren in sieben europäischen Ländern. Von 1161 zugewiesenen Patienten wussten 72 % bei Aufnahme nicht, dass sie unter einer Migräne leiden und bezeichneten ihre Beschwerden lediglich als Kopfschmerzen (64 %), Nackenschmerzen (4 %), Spannungskopfschmerzen (3 %) oder Sinusitis (1 %). Nur 8 % ihrer Haus- und 35 % der konsultierten Fachärzte hatten bei den Kranken die richtige Diagnose gestellt, aber bei jedem zweiten eine Bildgebung veranlasst. Eine MRT vom Kopf oder der HWS braucht man aber gar nicht so häufig, betonte die Expertin.
Migräneprophylaxe wird praktisch nicht verordnet
Große Defizite zeigen sich auch in der Behandlung. Die Wahrscheinlichkeit, dass Hausärzte ein Triptan verschreiben, liegt in Deutschland noch nicht einmal bei 30 %. Und im Hinblick auf eine Prophylaxe sieht es trotz gegebener Indikation zappenduster aus, wie eine andere Studie ergab. Hausärzte verordnen sie praktisch gar nicht. In der Kopfschmerzmedizin 2021 geht es also gar nicht unbedingt um das Neueste vom Neuen oder um tolle Medikamente, sondern darum, dass banale Diagnosen nicht gestellt werden, fasste die Neurologin zusammen.
Was für einen symptomatischen Kopfschmerz spricht
- pathologischer neurologischer Untersuchungsbefund
- neu aufgetretener Kopfschmerz bei älteren Patienten
- zunehmende Frequenz und Intensität
- plötzlicher Beginn
- neu aufgetretene Cephalgie bei bestehenden Risikofaktoren (u.a. Krebserkrankung, HIV)
- Zeichen einer systemischen Erkrankung (z.B. Fieber, Meningismus, Ausschlag)
- Papillenödem
- wiederholtes Kopftrauma
- Z.n. Coronaimpfung
Die Sache mit dem Nacken
- Strenge Einseitigkeit der Beschwerden spricht für einen trigeminoautonomen Kopfschmerz.
- Phono- und Photophobie sowie Übelkeit und Erbrechen sind zwar typisch für eine Migräne, kommen aber auch bei Clusterpatienten vor, die z.B. von ihrer migränekranken Mutter das „Migränegehirn“ geerbt haben.
- Trigeminoautonome Symptome gehören meist, aber nicht immer zu den trigeminoautonomen Kopfschmerzen, denn ca. 20 % der Migränepatienten leiden ebenfalls darunter.
- Zu Migränekranken passt ein vermehrtes Ruhebedürfnis.
- Agitiertheit ist vor allem mit dem Clusterkopfschmerz assoziiert.
Medikamente möglichst früh in der Attacke geben
Gelang es anhand der genannten Kriterien, den Kopfschmerz als Migräne zu diagnostizieren, kann die Therapie erfolgen. Sie umfasst zum einen die Akutbehandlung – das Präparat, das individuell am besten hilft, wird in der Attacke möglichst frühzeitig und in der passenden Applikationsform gegeben. Zum anderen muss man an eine medikamentöse Prophylaxe denken. Sie kommt für all jene Patienten in Betracht, deren Lebensqualität durch die Attacken so stark beeinträchtigt ist, dass die prophylaktische Medikation für sie das kleinere Übel wäre, sagte Prof. Holle-Lee. Auch wenn Chronifizierungsgefahr besteht oder ein Medikamentenübergebrauch vorliegt, bestehe die Indikation zur Prophylaxe.Kongressbericht: 94. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie – Live. Interaktiv. Digital