Stiff-Person-Syndrom Die Angst vor dem Zebrastreifen
Eine meist schleichende Entwicklung und die komplexe Symptomatik erschweren die Diagnose und die Therapie des Stiff-Person-Syndroms (SPS). Laut Prof. Dr. Marinos Dalakas von der Thomas Jefferson University in Philadelphia kann man von einem SPS ausgehen, wenn folgende Kriterien erfüllt sind:
- Steifheit der axialen und proximalen Muskeln (vor allem der paraspinalen Muskeln des Abdomens und der thorakolumbalen Muskulatur), die zu Hyperlordose, Schwierigkeiten beim Drehen und Beugen, einem langsamen, stockenden Gang und unkontrollierten Stürzen führt
- häufige, oft schmerzhafte Muskelkrämpfe, die durch Angstzustände (z.B. in Bezug auf anstehende motorische Aufgaben) und starkes Erschrecken bei unerwarteten auditiven, visuellen oder taktilen Reizen ausgelöst werden.
- Anzeichen einer Aktivität der motorischen Einheiten in Ruhe (nachgewiesen mittels Elektromyografie), die gleichzeitig von agonistischen und antagonistischen Muskeln ausgehen und trotz Entspannungsversuchen auftreten
- sehr hoher Titer von Antikörpern gegen Glutamat-Decarboxylase (GAD) im Serum (> 10.000 IU/ml, nachgewiesen mittels Enzymimmunoassay) oder Nachweis von GAD-Antikörpern im Liquor
- Fehlen von Anzeichen, die auf eine andere neurologische Diagnose hinweisen könnten
Die autoimmunen Prozesse sind noch nicht verstanden
In der Pathophysiologie des SPS spielt die reziproke Hemmung zwischen entgegengesetzt wirkenden Muskeln eine entscheidende Rolle. Durch eine Störung inhibitorischer Signale von GABAergen Interneuronen kommt es zu einer gesteigerten Erregbarkeit der Muskulatur. Dies hat unter anderem zur Folge, dass Motorneurone im Antagonisten (z.B. Trizeps) aktiv sind, obwohl der Agonist (z.B. Bizeps) angespannt ist. Man geht außerdem mittlerweile stark davon aus, dass einem SPS autoimmune Prozesse zugrunde liegen. Diese sind jedoch noch nicht vollständig aufgeklärt.
Die verschiedenen Therapieoptionen zielen auf diese zwei pathogenetischen Mechanismen des SPS ab. Prof. Dalakas empfiehlt bei der Wahl der Behandlung ein Vorgehen nach Stufen. Die symptomatische Behandlung fußt primär auf Medikamenten, die zu einer Erhöhung von GABA führen. Hierzu zählen GABA-Rezeptoragonisten wie Diazepam, zentral wirkende Antispasmolytika wie Baclofen und bestimmte anfallssupprimierenden Medikamente wie Gabapentin. Eine Kombinationstherapie mit Vertretern aus jeder dieser drei Substanzklassen ist die erste Wahl beim SPS, da sie die hemmende GABA-Neurotransmission verbessern, die kortikale Übererregbarkeit unterdrücken oder GABA im ZNS erhöhen. Dies wirkt sich positiv auf die gestörte reziproke Hemmung aus.
Diese GABAerge Therapie sollte idealerweise von Beginn an mit einer Immuntherapie kombiniert werden – spätestens aber, wenn sich nach zwei bis drei Monaten keine zufriedenstellende Wirkung einstellt. Zögert man mit dem Beginn der Immuntherapie zu lange, drohen Prof. Dalakas zufolge irreversible klinische Manifestationen oder ein Fortschreiten der Krankheit. Bislang konnte in kontrollierten klinischen Studien nur die Wirksamkeit von intravenösen Immunglobulinen nachgewiesen werden.
Andere vielversprechende, aber weniger gut untersuchte Möglichkeiten sind die Therapie mit Rituximab, eine Plasmapherese oder eine autologe hämatopoetische Stammzelltransplantation. Eine Reihe weiterer therapeutischer Möglichkeiten wie der Einsatz monoklonaler Antikörper wird derzeit erforscht.
Bei der Wahl der Medikation sind eine Reihe patientenspezifischer Faktoren zu berücksichtigen. So kann beispielsweise bei Kindern und Jugendlichen die schulische Leistung unter GABA-Rezeptoragonisten und ähnlich wirkenden Medikamenten erheblich leiden. Bei Schülern rät Prof. Dalakas deshalb ebenso wie bei Schwangeren sowie bei Frauen mit Kinderwunsch zu einem möglichst frühen Beginn einer Immuntherapie mit intravenösen Immunglobulinen. Ältere Patienten stellen meist aufgrund von Komorbiditäten eine besondere Herausforderung dar und scheinen durch GABAerge Medikamente häufig sedierende Effekte zu erleben.
Oft langer Leidensweg mit falschen Diagnosen
Kennzeichnend für die Erkrankung ist, dass die Patienten unter Angstzuständen in öffentlichen Räumen leiden oder spezifische Phobien vor der Ausführung bestimmter körperlicher Aufgaben entwickelt haben, etwa die Straße zu überqueren. Dies wird dadurch verstärkt, dass die Symptome einer SPS episodisch auftreten und die Wirkung einer krampflösenden Therapie über den Tag schwanken kann.
Weitere psychische Folgen, die auftreten können, sind Depressionen sowie die Abhängigkeit von Narkotika. Da viele der Patienten bereits einen langen Leidensweg mit falschen Diagnosen und wirkungslosen Therapien hinter sich haben, ist viel Verständnis seitens des Neurologen gefragt. Im Falle psychiatrischer Komorbiditäten benötigen die Betroffenen auch psychologische bzw. psychotherapeutische Unterstützung.
Je nach Krankheitsstadium kann für manche Betroffene eine Physiotherapie (z.B. Aquatherapie, Tiefengewebsmassage, Wärme- oder Ultraschalltherapie) sinnvoll sein. Weiterhin gibt es Berichte von SPS-Patienten, die nicht-pharmakologische Techniken zum Stressabbau verfolgen. Beispiele hierfür sind kognitive Therapien, Verhaltenstherapien, Yoga und Mediation. Der Nutzen dieser Maßnahmen ist allerdings bislang nicht wissenschaftlich dokumentiert.
Quelle: Dalakas MC. Neurol Neuroimmunol Neuroinflamm 2023; 10: e200109; DOI: 10.1212/NXI.0000000000200109