Kasuistik Die EGPA hätte man erkennen können
Als sich ein 68-jährige Rentner mit seinem schwer kontrollierbaren Asthma 2017 im Zentrum für unerkannte und seltene Erkrankungen (ZUSE) der Universität Marburg vorstellte, hatte er schon eine Arztodyssee über elf Jahre hinter sich. Die Anamnese ergab die komplette Samter-Trias mit Asthma, ASS-Intoleranz und Polyposis nasi. Außerdem waren rezidivierende Lungeninfiltrate bekannt, berichtete Dr. Andreas Jerrentrup.
Eine aus anderer Indikation erfolgte Kardio-MRT ergab eine myokardiale Entzündungsreaktion in Form eines fleckigen Late Enhancement bei normaler Pumpfunktion. Im Blut zeigte sich eine ungewöhnlich starke Eosinophilie mit einem Anteil von fast 40 % – „viel zu hoch für ein gewöhnliches Asthma“, wie Dr. Jerrentrup betonte. Die Lungenfunktion bot wenig Spektakuläres: eine mäßige Obstruktion mit Überblähung.
Für den Marburger Pneumologen war die Diagnose eosinophile Granulomatose mit Polyangiitis (EGPA) schnell klar. Asthma plus mehr als 10 % Eosinophile plus wandernde oder transiente pulmonale Infiltrate plus sinusoidale/parasinusoidale Abnormalitäten ergeben zusammen eine Spezifität von nahezu 100 % (genau: 99,7 %). Spätestens 2006, als bei dem Patienten eine Eosinophilie und Lungeninfiltrate diagnostiziert wurden, hätte die Diagnose fallen müssen. Dennoch pilgerte der Mann jahrelang von Arzt zu Arzt.
Das Problem: Da er das Gefühl hatte, seine Symptome nicht richtig schildern zu können, legte er jedem Arzt immer seine gesamte Patientenakte vor, die zum Schluss rund 200 Seiten umfasste. Die entscheidenden Informationen in diesem Papierberg zu finden, erfordert aber mehr Zeit, als ein Arzt in der Praxis aufbringen kann. In diesem Punkt wird hoffentlich in absehbarer Zeit der Kollege KI weiterhelfen, meinte Dr. Jerrentrup. Nach entsprechendem Training wird er Dokumente schneller systematisch scannen und auswerten können als jeder Mensch. Am ZUSE ist bereits ein Prototyp entwickelt worden, der Arztbriefe liest und das Ergebnis durch Suchmaschinen schickt. „Das funktioniert schon recht gut, ist aber schwierig, weil wir so schlampig mit Sprache umgehen“, so Dr. Jerrentrup.
Telegrammstil macht nicht nur die KI ratlos
Allein fürs Kolonkarzinom finden sich in Arztbriefen knapp zwei Dutzend Synonyme. Abkürzungen sind gang und gäbe und oft nicht eindeutig, wie das beliebte Beispiel HWI zeigt: Für Prognose und Prozedere ist nun mal entscheidend, ob das für Harnwegsinfekt oder für Hinterwandinfarkt steht. Viele Kollegen pflegen unter Zeitstress auch einen Telegrammstil, der (nicht nur) die KI ratlos macht. Und wo kommt noch mal bei Amitriptylin das Y hin? Bis die KI mit diesem Kauderwelsch zurechtkommt, könnte es dauern. Bis dahin gibt es aber Ada, eine deutsche Gesundheits-APP in Arzt- und Patientenversion. Ada kann zwar keine Arztbriefe „lesen“, hätte die Diagnose EGPA anhand der vier typischen Symptome aber korrekt gestellt.
Kongressbericht: 9. Symposium Seltene Lungenerkrankungen im virtuellen Fokus