Diabetes und Niere Die Geschichte der Folgeschäden des Diabetes

Autor: Dr. med. Viktor Jörgens

Erst mit zunehmender Lebensdauer zeigen sich immer wieder Folgeschäden oder Komplikationen des Diabetes. Erst mit zunehmender Lebensdauer zeigen sich immer wieder Folgeschäden oder Komplikationen des Diabetes. © Siam – stock.adobe.com

Zunächst war die Tuberkulose die gefährlichste Komplikation eines Diabetes. Erst mit der immer erfolgreicheren Insulintherapie traten die heute als typisch bekannten Folgeschäden beispielsweise an den Nieren deutlicher zutage. 

Heute versteht man unter dem Begriff Folgeschäden oder Komplikationen des Diabetes vor allem krankhafte Veränderungen, die als Folge ungenügender Kontrolle des Blutzuckerspiegels auftreten. In den Zeiten vor der Entdeckung des Insulins wurde als gefährlichste Komplikation des Diabetes die Tuberkulose genannt. Erst nach vielen Jahren erfolgreicher Insulinbehandlung bemerkten aufmerksame Kliniker wie Joslin die typischen Folgeschäden an Augen, Nieren und Nerven, er war auch einer der ersten, die einen Zusammenhang mit der Einstellung des Glukosestoffwechsels annahmen. Viele Jahre später belegten DCCT und UKPDS eindeutig, dass diesen Folgeschäden durch eine bessere Einstellung des Diabetes vorgebeugt werden kann. 

Neues Krankheitsbild zwei Jahrzehnte nach Beginn der Insulintherapie

Vor der Entdeckung der Insulinbehandlung war neben dem damals immer tödlich verlaufenden diabetischen Koma die Tuberkulose die größte Gefahr bei Diabetes. Auch andere Infektionskrankheiten wie Syphilis und Furunkulose beschrieb man als bei Diabetes häufig auftretend. Nur Menschen mit Typ-2-Diabetes konnte man damals über längere Zeit beobachten, und es fiel auf, dass viele von ihnen an allgemeiner Arteriosklerose und Nierenerkrankungen litten. Den durch Nierenerkrankungen häufig auftretenden erhöhten Blutdruck sah man damals als „notwendig“ an, daher stammt der heute manchmal noch benutzte, irrige Begriff „essentielle“ Hypertonie. Erst zwei Jahrzehnte nach der Einführung der Insulinbehandlung beobachtete man bei vielen der durch Insulin geretteten jungen Menschen eine wahre Epidemie von schweren Folgeerkrankungen. 

Chris Feudtner beschrieb in seinem Buch „Bittersweet, Diabetes and the transformation of illness“, das auf dem Archiv der Joslin Klinik beruht, folgende Krankengeschichte: 1927 war im Alter von vier Jahren Dia­betes aufgetreten, Joslin verschrieb drei Insulininjektionen pro Tag und schrieb hoffnungsvoll dem Hausarzt: „Diese diabetischen Kinder scheinen ewig zu leben“. Zwischen 1938 und 1947 war der Patient gar nicht beim Arzt. 1950 wurde er für eine Nachuntersuchung einbestellt, er fühlte sich völlig gesund. Man diagnostizierte Retinopathie, Albuminurie und Hypertonie. Ein halbes Jahr später kam es zu Sehstörungen. Joslin empfahl eine gute Stoffwechselkontrolle. Bald darauf erblindete der Patient auf beiden Augen und ließ seine Mutter an Joslin schreiben: „Was soll ich tun? Was kann ich erwarten? Wenn ich nicht arbeiten kann, wovon soll ich leben? Sagen Sie mir bitte, was ich tun soll!“ Im Alter von 32 Jahren kam der Patient ins Krankenhaus, er hatte einen stummen Herzinfarkt erlitten und war niereninsuffizient. Im Arztbrief an den Hausarzt stand: „Der Patient ist ein typischer Fall von „diabetischer Triopathie“. Ich lege Ihnen einen Sonderdruck mit der Beschreibung von 155 Patienten unserer Klinik bei, die auch damit betroffen sind. Sie können nichts weiter tun als die Behandlung so gut wie möglich fortzuführen.“ Im folgenden Winter kam es zu einem Schlaganfall, zwei Monate später musste ein Bein amputiert werden, kurz darauf verstarb der Patient – im Alter von 33 Jahren![1]. Der an der Joslin-Klinik geprägte Begriff der diabetischen „Triopathie“ ist nicht erhalten geblieben, es gibt eben mehr als drei Folgeerkrankungen bei Diabetes. Die Bedeutung der Nierenschäden für die Prognose bei Diabetes wurde aber schon damals erkannt. Und es wurde auch klar, dass an der Niere für Diabetes typische Veränderungen auftreten, die 1936 ein aus Hamburg emigrierter Pathologe und ein junger Engländer in Boston entdeckten.

Der Hamburger Paul Kimmelstiel entdeckt die diabetische Glomerulosklerose

Dem deutschen Pathologen und Hochschullehrer Paul Kimmelstiel (1900–1970), dem späteren Entdecker der Kimmelstiel-Wilsonschen Glomerulosklerose bei Diabetes, wurde von den Nazis am 31. Juli 1933 aus „rassischen“ Gründen die Lehrbefugnis entzogen. Zum 30. September 1933 verlor der junge Privatdozent endgültig seinen Arbeitsplatz als Oberarzt bei dem Pathologen Theodor Fahr an der Universität Hamburg. Im April 1934 emigrierte die Familie mit zwei kleinen Töchtern in die USA. Frau Kimmelstiel musste ihre florierende Arztpraxis aufgeben, die Reichsfluchtsteuer raubte 96 % ihres Ersparten, so dass sie mit nur 700 Reichsmark in Boston ankamen. Nicht allen Mitgliedern der Familie gelang es, rechtzeitig zu fliehen, Kimmelstiels Schwiegervater, der Hamburger Arzt Dr. Samuel van Biema nahm sich 1938 das Leben, seiner Frau gelang eine abenteuerliche Flucht über die Sowjetunion und Japan zum Sohn in die USA [2].

In Boston fand Kimmelstiel eine Anstellung als Pathologe am Mallory Institut, das zur Harvard Medical School gehört. Dort traf er auf den Engländer Clifford Wilson (1906–1997), der mit einem Rockefeller Reisestipendium nach Boston gekommen war, er hatte das große Glück, zum richtigen Zeitpunkt beim richtigen Chef zu sein. So ging sein Name in alle medizinischen Lehrbücher ein. Kimmelstiel und Wilson publizierten 1936 ihre Beobachtung besonderer Veränderungen an den Nieren von Menschen mit Diabetes [3]. Das Kimmelstiel-Wilson Syndrom ist eine Folgeerkrankung des Diabetes durch eine Störung der Kapillaren der Glomerula der Nieren. Typisches Merkmal ist die knötchenförmige Bindegewebsvermehrung (noduläre Sklerose) der Glomerula. Kimmelstiel forschte auch später an verschiedenen US-Universitäten weiter über die diabetische Nephropathie. Auf dem dritten Weltkongress über Diabetes 1958 in Düsseldorf hielt er einen Vortrag darüber. Aber auf den in Hamburg vakanten Lehrstuhl für Pathologie wird er nicht berufen, sein früherer Chef Prof. Fahr hatte sich dort 1945 das Leben genommen, nachdem die Britische Besatzungsmacht ihm seinen Lehrstuhl entzogen hatte. Kimmelstiels Name wurde aus heute nicht mehr klärbaren Gründen von der Berufungsliste gestrichen [2]. Auch hatte Kimmelstiel keinen Erfolg damit, bei der Wiedergutmachung als C4 Professor eingestuft zu werden, ein Gutachter namens Prof. Robert Prévot befand, dass die Universitäten, an denen Kimmelstiel in den USA tätig war, „die Qualität deutscher Universitäten nicht erreichten“ und so wurde nur anerkannt, dass er eine außerplanmäßige Professur und keinen Lehrstuhl erreicht hätte, wäre er in Deutschland geblieben, ein beschämender Umgang mit einem Forscher, der schon damals Weltruhm erlangt hatte. Immerhin wurde mittlerweile vor dem Eingang des Universitätsklinikums der Universität Hamburg zum Gedenken an Kimmelstiel ein Stolperstein angebracht [2].

Kimmelstiels Entdeckung fand gleich nach dem Weltkrieg Eingang in alle Lehrbücher, aber es begann ein Streit über die Ursache der Folgeschäden des Diabetes. Bertram machte dafür eine allzu fettreiche Ernährung verantwortlich, die über erhöhte Cholesterin- und Triglyzeridwerte die kleinen Blutgefäße schädigen sollte. Er vertrat auch noch lange nach dem Weltkrieg eine Einstellung des Diabetes mit Restglukosurie. Wörtlich schrieb er: „Eine andere Frage ist, ob die Vermutung, dass die Hyperglykämie in der Pathogenese des Diabetes eine entscheidende Rolle spielt, und uns zwingen muss, bei Zuckerkranken unter allen Umständen Normoglykämie und Zuckerfreiheit des Harns zu erzwingen. Eine mäßige Hyperglykämie mit Blutzuckerwerten zwischen 160 und 180 mg/dl und eine entsprechende Restglukosurie halten wir bei insulinbehandelten Diabetikern für unschädlich und zur Vermeidung der besonders bei gefäßgeschädigten Zuckerkranken zu fürchtenden hypoglykämischen Reaktionen sogar für wünschenswert. Ein Beweis für die Schädlichkeit eines derartigen Vorgehens ist bisher von keiner Seite erbracht worden“ [4]. Obwohl Bertram diese Publikation Joslin zum 80. Geburtstag widmet, dessen Ansichten widerspricht er. Bertram spekulierte in der dritten Auflage seines Lehrbuchs auch darüber, dass es sich bei den Folgeschäden des Diabetes um eine schädliche Wirkung der Verzögerungsstoffe in den Insulinpräparaten handeln könnte. Angeschuldigt als Auslöser der Folgeschäden wurde auch das Wachstumshormon, eine Theorie, die sogar dazu führte, dass man Menschen mit Diabetes die Hypophyse entfernte, um eine proliferative Retinopathie günstig zu beeinflussen. Diese Idee hatte besonders der Diabetologe Rolf Luft in Schweden aufgebracht. Weit über 1000 Menschen mit Diabetes wurde auf Grund dieser Theorien die Hypophyse entfernt oder zerstrahlt, sie wurden regelrecht verstümmelt, ohne dass es eine korrekte, kontrollierte Studie gab, die diesen Eingriff untersucht hätte.

Dass es sich bei den Folgeschäden um eine Schädigung durch über lange Zeit erhöhten Blutzuckerspiegel handeln könnte, meinte zunächst nur eine Minderheit, angeführt allerdings vom prominenten Diabetologen Joslin, der sehr früh feststellte, dass die von Kimmelstiel und Wilson beschriebenen Nierenveränderungen sehr häufig gemeinsam mit Retinopathie und Neuropathie nach längerer Diabetesdauer auftraten. Aus seinen Erfahrungen mit der Behandlung von Diabetes über ein halbes Jahrhundert berichtet Joslin 1950 im British Medical Journal. An seinen Langzeitbeobachtungen in der Joslinklinik kann er zeigen, was sich seit der Insulintherapie geändert hat. Nur 1,9 % der Menschen mit Diabetes starben 1944–1949 im diabetischen Koma, vor 1922 waren es noch zwei Drittel gewesen. Als Todesursache sind jetzt Arteriosklerose und Nierenversagen viel häufiger geworden, aber diese Folgekrankheiten sieht Joslin nicht als zwangsläufig an. Bei guter Diabeteseinstellung hat er sie deutlich seltener beobachtet [5]. Mit der Behauptung, der Beweis für die Notwendigkeit einer guten Einstellung des Glukosestoffwechsels sei nicht erbracht, hatte Bertram damals Recht, erst Jahrzehnte später lagen die kontrollierten Studien vor, die zweifelsfrei bewiesen, dass durch verbesserte Stoffwechseleinstellung die Folgeschäden verhütet werden können. Joslin behielt mit seinen Forderungen nach guter Einstellung Recht, während Bertrams Patienten durch seine „laxen“ Therapieziele sicher großen Schaden genommen haben.

Die Gretchenfrage: Vermindert bessere Einstellung Folgeschäden?

Es war zunächst schwer vorstellbar, dass Glukose, ein kerngesundes Molekül, ohne das weder unser Gehirn noch unsere Muskeln funktionieren können, zerstörende Wirkungen auf ganze Organsysteme haben kann. Aber es mehrten sich die Hinweise, dass eine schlechte Einstellung des Glukosestoffwechsels Grund der Folgeschäden des Diabetes ist. Bei Menschen ohne Diabetes, deren Bauchspeicheldrüse entfernt worden war, und die dadurch zwangsläufig einen Diabetes entwickelt hatten, fand man nach mehreren Jahren dieselben Folgeschäden wie bei Menschen mit Diabetes. Also waren diese Folgeschäden nicht durch den Diabetes selbst ausgelöst, sondern durch den veränderten Stoffwechsel. Wegweisend waren auch die Versuche an Hunden, denen man die Bauchspeicheldrüse entfernt hatte. Engerman und Bloodworth beobachteten solche Hunde mit guter und schlechterer Einstellung des Diabetes und bewiesen: schlechtere Einstellung des Diabetes ist Ursache der Veränderungen an Augen und Nieren. Somit war die Notwendigkeit der guten Einstellung zumindest beim Diabetes des Hundes bewiesen [6].

Einen überzeugenden Hinweis auf die Notwendigkeit guter Einstellung des Diabetes war die Arbeit von Prof. Jean Pirart (1922–2014) in Brüssel (Abb. 3) [7]. Zuerst erschien diese epochale Arbeit in französischer Sprache, dann in den beiden ersten Ausgaben der klinischen Zeitschrift der amerikanischen Diabetesgesellschaft Diabetes Care. 4.400 Menschen mit Diabetes hatte Pirart von 1947 bis 1973 in Brüssel betreut. Alle hatten gelernt, täglich mehrfach Urinzuckerselbstkontrollen durchzuführen und waren mit dem Ziel behandelt worden, möglichst urinzuckerfreie Proben vor den Mahlzeiten zu haben. Bei vielen gelang dies, bei anderen weniger. Er teilte die Patienten in verschiedene Grade der Qualität der Stoffwechselkontrolle ein und konnte zeigen, wie wichtig gute Stoffwechselkontrolle für die Vorbeugung der Folgeschäden war. Besonders die Ergebnisse bezüglich der Retinopathie waren sehr überzeugend. Die Patienten mit guter Einstellung entwickelten über zwei Jahrzehnte nur in ca. 10 % eine Retinopathie, die fast nie sehr schwer war, die sehr schlecht eingestellten Patienten bekamen zu über 70 % eine Retinopathie und dies häufig in Form einer proliferativen Retinopathie. Diese Daten waren so eindeutig, dass viele Diabetologen der Meinung waren, eine kontrollierte Studie mit absichtlich schlecht eingestellten Patienten sei nicht mehr vertretbar. Absolute Sicherheit konnte aber nur eine prospektive, kontrollierte Studie mit zufallsmäßiger Zuteilung zu mehr oder weniger guter Einstellung des Stoffwechsels liefern. So kam es zum Diabetes Control and Complication Trial (DCCT).

Der Diabetes Control and Complications trial (DCCT)

Noch 1977 tobte in den USA der Disput zwischen Ärzten, die eine gute Diabeteseinstellung als unnötig ansahen und anderen, die dies als Weg zum Vermeiden der Folgeschäden propagierten. Idelfinger, Chefherausgeber des New England Journal of Medicine, schrieb 1977: „Trotz gewaltiger Fortschritte der Grundlagenforschung hat sich die tagtägliche Behandlung des Diabetes wenig geändert. Wenn verschiedene Fraktionen von Diabetes-Experten die medizinische Praxis beeinflussen wollen, sollten sie sich endlich einmal auf eine klare Definition der Blutzuckerkontrolle und ihrer verschiedenen Grade einigen, die sie momentan durch viele, nicht quantitative Adjektive ausdrücken“ [8]. 

Idelfinger hatte völlig Recht – seit der Entdeckung des Insulins hatte es kaum nennenswerte Fortschritte in der Therapie gegeben. Aber das änderte sich. Die wichtigsten technischen Neuerungen waren die Einführung der HbA1c-Bestimmung und der Blutzuckerselbstkontrolle. Die Möglichkeit, mit einem Teststreifen Glukose zu bestimmen war zwar schon 1964 bei Ames in den USA entwickelt worden, aber erst die Entwicklung des Haemoglukotest bei Boehringer Mannheim brachte den Durchbruch: überall begannen die Patienten, den Glukosespiegel selbst zu messen. Dies machte es viel leichter, die Stoffwechseleinstellung anzupassen und normalen Blutzuckerspiegeln näher zu bringen. Die zweite wichtige Entwicklung war die Einführung der Bestimmung des HbA1c als Maß für die Qualität der Stoffwechseleinstellung. Das glykierte Hämoglobin, also roter Blutfarbstoff, an den Glukose angelagert ist, entdeckte der iranische Pädiater Prof. Samuel Rhabar in Teheran. Er war eigentlich auf der Suche nach abnormen Hämoglobinvarianten und untersuchte deshalb diverse Blutproben in seinem Krankenhaus. Er fand Proben, bei denen das Hämoglobin sich sehr schnell in der Säulenchromatographie senkte (daher „Fast Haemoglobin“). Die Rückfrage auf den Stationen ergab, dass die Kinder, von denen dieses Blut stammte, Diabetes hatten. Rahbar veröffentlichte seine Entdeckung 1968 und glaubte zunächst, eine Art genetischen Marker für Diabetes gefunden zu haben. Bald stellte sich heraus, dass Hämoglobin sogar im Reagenzglas Glukose anlagert und dass man mit der Bestimmung des HbA1c die Stoffwechselkontrolle im Laufe der Lebenszeit von Erythrozyten bestimmen kann, also über ca. 100 Tage. Erst ein Jahrzehnt später erkannten die Diabetologen, dass sie mit dem HbA1c ein hervorragendes Maß für die Beurteilung der Stoffwechseleinstellung in die Hand bekommen hatten. Jetzt waren die methodischen Voraussetzungen für eine Studie gegeben, den Zusammenhang zwischen Einstellung und Folgeschäden definitiv zu klären. Aber so eine „Megastudie“ musste auch finanziert werden. Dass der Staat in den USA schließlich das Geld für die Studie bereitstellte (letztlich kostete der DCCT 165 Millionen Dollar), ist vor allem der Fernsehjournalisten Lee Ducat zu verdanken. Sie war es, die eine Stiftung zur Erforschung des Typ-1-Diabetes gründete und sie bearbeitete den US-Senat solange, bis schließlich das Geld für den DCCT bereitstand. Sie soll gesagt haben: „An einem Tag kann man mehr Geld von der Regierung bekommen als durch jahrelanges Fundrising“ [9]. Ärztlicher Organisator des DCCT war vor allem Prof. Oscar B. Crofford. Seinem klinischen Know-how und seinem diplomatischen Geschick war es zu verdanken, dass die Studie möglich wurde. Es gab eine langwierige Diskussion über die Methode der Studie. Schließlich einigte man sich darauf, dass die Kontrollgruppe genauso behandelt werden sollte, wie es damals in den USA üblich war. Die „intensiver“ behandelte Gruppe bekam zusätzlich Blutzuckerselbstkontrollen, wurde häufiger ambulant einbestellt und strebte niedrigere Blutzuckerwerte an. Nach einer erfolgreichen Machbarkeitsstudie konnte der DCCT 1985 beginnen. 1441 Menschen mit Typ-1-Diabetes wurden bis 1989 rekrutiert. Nach im Mittel 6,5 Jahren wurde die Studie beendet und 1993 publiziert [10]. In der intensiver behandelten Gruppe war im Laufe der Studie das HbA1c 2 % niedriger (7,2 gegen 9,2) und eine Retinopathie war absolut in 76 % seltener aufgetreten. Die kontrollierte Studie bestätigte also die Beobachtungsstudien. Joslin und Pirart hatten recht gehabt. In Europa hätte man den DCCT gar nicht mehr durchführen können, im Gegensatz zu den USA mit seinem unsozialen Gesundheitssystem gab es in Europa schon für viele Patienten Schulung und Blutzuckerselbstkontrollen und die Mehrzahl der Diabetologen propagierte bereits eine optimale Einstellung. Ein Problem des DCCT war es, dass es kein einheitliches Curriculum für die Schulung der Patienten gab, dadurch ist es zu erklären, dass die Häufigkeit schwerer Hypoglykämien in den beteiligten 38 Zentren sehr unterschiedlich ausfiel und im Ganzen höher war als in Studien in Deutschland, die z. B. unsere Gruppe in Düsseldorf durchführte.

United Kingdom prospective Diabetes Study (UKPDS)

Ob sich eine bessere Diabeteseinstellung bei Typ-2-Diabetes (T2D) lohnt, untersuchte die UKPDS. Die Idee zu dieser Studie soll Prof. Robert Turner aus Oxford 1976 auf dem Internationalen Diabetes Kongress in Neu-Delhi auf einem Briefumschlag notiert haben. Er beantragte die Finanzierung bei der Britischen Dia­betesgesellschaft (BDA, heute Diabetes UK). Tattersall gestand, dass er damals die Finanzierung ablehnte. Weil die Studie jahrelang alle Mittel der BDA verbrauchen würde, fürchtete er als junger Forscher um die Finanzierung seiner eigenen Forschungsprojekte. Glücklicherweise stimmten die älteren Komiteemitglieder für die Studie. Aber allein das Geld der BDA genügte nicht, der Staat und die Industrie mussten auch mithelfen. Robert Turner soll gesagt haben, das Papier, das er für Forschungsanträge verbraucht habe, so viel gewogen habe wie er selbst [9].

23 Zentren im Vereinigten Königreich machten mit, 5.000 Menschen wurden rekrutiert, bei denen erstmals Typ-2-Diabetes festgestellt worden war. Bei ihnen wurde zunächst versucht, den Diabetes durch Gewichtsabnahme und mehr Bewegung ohne Medikamente zu behandeln. Mit 3867, die dann immer noch diabetische Blutzuckerwerte hatten, begann die Studie. Eine Gruppe wurde mit dem Ziel behandelt, den Nüchternblutzucker unter 6 mmol/L (108 mg/dl) zu halten, bei der anderen wurden Werte bis zu 15 mmol/L (270 mg/dl) toleriert, solange keine Beschwerden auftraten. Unerwarteterweise dauerte die Studie viel länger als geplant, die Patienten blieben zunächst gesünder als erwartet und es gab keinen Unterschied zwischen den Gruppen. Noch mehr Geld war nötig – es half u. a. eine Unterstützung von Bayer, dafür musste allerdings Bayers Acarbose auch noch in die Studie eingewoben werden. Auf dem EASD Annual Meeting 1998 in Barcelona wurden die Ergebnisse präsentiert [11]. Bei der besser eingestellten Gruppe war es seltener zu diabetesbedingten Endpunkten gekommen. Auch für den Typ-2-Diabetes war nun gesichert, dass eine bessere Einstellung des Glukosestoffwechsel hilfreich ist. Die eigentliche Überraschung der UKPDS waren aber die Ergebnisse der Blutdrucksenkung, die im Rahmen der UKPDS auch untersucht wurde.

Hypertonie: die große Gefahr bei Diabetes

Während die Blutzuckersenkung bei der UKPDS an der Häufigkeit des Auftretens von Herzinfarkten und Schlaganfällen in der Beobachtungszeit nichts geändert hatte, war die Senkung des Blutdrucks schon in der Zeit der Studie wirksam. Bei der Hälfte der Patienten sollte der Blutdruck etwas niedriger eingestellt werden. Dies gelang: die oberen Blutdruckwerte lagen in der besser behandelten Gruppe zwar nur um 8 mmHg niedriger (bei 144 mmHg), aber schon dies hatte erhebliche Auswirkungen. Es kam seltener zu Schlaganfällen und Herzversagen. Auch die typischen Folgeschäden des Diabetes traten seltener auf: eine Verschlechterung der Sehkraft war weniger häufig und bei besserem Blutdruck kam es auch seltener zu einer Verschlechterung einer diabetischen Retinopathie. Insgesamt wurden alle Diabetesfolgeerkrankungen um absolut 16,5 % vermindert. Die Blutdruckeinstellung ist also mindestens genauso wichtig wie die Diabeteseinstellung: in der UKPDS mussten nur 11 Patienten neun Jahre lang behandelt werden, um bei Einem eine Folgeerkrankung des Diabetes zu verhüten. Wurde das HbA1c über 10 Jahre um 0,9 % gebessert, mussten dreimal mehr Menschen behandelt werden, um bei Einem eine Folgeerkrankung zu verhüten. Es genügt also nicht, nur auf den Blutzuckerspiegel zu achten, Erkennung und Behandlung der Hypertonie sind nach den Erkenntnissen der UKPDS sehr wichtig.

Auch bei Menschen mit Typ-1-Diabetes wurde im Laufe der Jahre die Bedeutung der Behandlung der Hypertonie immer klarer. Schon die Beobachtungsstudien über viele Jahre hatten gezeigt, wie schlecht die Prognose des Typ-1-Diabetes ist, wenn es zu einer Hypertonie kommt. Carl Eric Mogensen zeigte schon 1976 als erster, dass durch eine intensive Behandlung des Blutdrucks eine beginnende Nierenschädigung bei Typ-1-Diabetes aufgehalten werden kann [12]. Viele Studien folgten: Mogensen in Arhus, Viberti in England und Parving in Gentofte forderten aufgrund ihrer Untersuchungen, dass bei Typ-1-Diabetes regelmäßig die Eiweißausscheidung sehr genau bestimmt werden muss, um schon beim Auftreten einer Mikroproteinurie die Blutdrucksenkung rechtzeitig zu intensivieren. Dieses Vorgehen ist heute Bestandteil aller Leitlinien.

Auzug aus: Dr. med. Jörgens, „Die Geschichte der Folgeschäden des Diabetes“, Die Geschichte der Diabetesforschung - Vom Opium zum Insulin, 2022, Verlag Kirchheim+Co/MedTriX GmbH

Quellen:

  1. Feudtner C: Bittersweet: Diabetes, Insulin and the transformation of illness. University of North Carolina Press, Chapel Hill & London, 2003 

  2. Groß D, Schmidt M, Sziranyi J: Die doppelte Ausgrenzung des Pathologen und NS-Opfers Paul Kimmelstiel (1900–1970). Patholog 2019; 40: 301–312 

  3. Kimmelstiel P, WilsonC: Intercapillary lesions in the glomeruli of the kidney. Am J Pathol 1936; 12: 83–98 

  4. Bertram F: Zur Pathogenese der Regulationskrankheiten. DMW 1950; 75: 134–138 

  5. Joslin E P: A half century experience in diabetes mellitus. BMJ 1950; (1) 4662: 1095–1098 

  6. Engerman R L, Bloodworth JR J M B: Experimental Diabetic Retinopathy in Dogs. Arch Ophthalmol 1965; 73(2): 205–210 

  7. Pirart J: Diabetes mellitus and its degenerative complications: A prospective study of 4400 patients observed between 1947 and 1973. Diabetes Care 1978; 1: 168–188 (1st part) and 252–261 (2nd part)

  8. Idelfinger F J: Debates on diabetes. NEJMED 1977; 296: 1060–1062 

  9. Tattersall R: The pissing evil Swan & Horn Fife, Scotland, 2017 

  10. Diabetes Control and Complications Trial Research Group, Nathan D M, Genuth S, Lachin J, Cleary P, Crofford O, Davis M, Rand L, Siebert C: The effect of intensive treatment of diabetes on the development and progression of long-term complications in insulin-dependent diabetes mellitus. N Engl J Med 1993; 329 (14): 977–86 

  11. UK Prospective Diabetes Study (UKPDS) Group: Intensive blood-glucose control with sulphonylureas or insulin compared with conventional treatment and risk of complications in patients with type 2 diabetes (UKPDS 33). Lancet 1998; 352(9131): 837–53 

  12. Mogensen CE: Progression of nephropathy in long-term diabetes with proteinuria and the effect of initial antihypertensive treatment. Scand J Lab Clin Invest 1976; 36: 383–388

Dieser Beitrag ist ursprünglich erschienen in: Nierenarzt/Nierenärztin 6/2024