Geschlechterinkongruenz Die ICD-11 räumt mit den F66-Diagnosen und Transsexualität als Störung auf

DGPPN 2024 Autor: Friederike Klein

Die Angaben zur Häufigkeit der Geschlechterinkongruenz variieren je nachdem, ob diagnostische Kriterien oder Selbstzuschreibungen zugrunde gelegt werden. Die Angaben zur Häufigkeit der Geschlechterinkongruenz variieren je nachdem, ob diagnostische Kriterien oder Selbstzuschreibungen zugrunde gelegt werden. © Vikkymir Store - stock.adobe.com

Noch ist die deutsche Version der ICD-11 nicht verbindlich verabschiedet. Auf dem DGPPN-Kongress waren die kommenden Neuerungen aber in vielen Bereichen schon ein Thema. So auch in der Sexualmedizin.

In der ICD-10 wurde 1991 die Diagnose Homosexualität gestrichen, aber es blieb bei den F66-Diagnosen (psychische und Verhaltensstörungen in Verbindung mit der sexuellen Entwicklung und Orientierung). Mit der ICD-11 ist nun auch damit Schluss: Die F66-Diagnosen und die Diagnose Transsexualität sind passé. Die Entpathologisierung der Geschlechterinkongruenz in der Medizin wurde höchste Zeit, Barrieren in der Gesundheitsversorgung seien aber trotzdem noch zu überwinden, sagte Dr. Lieselotte­ Mahler­, Chefärztin der Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie der Kliniken im Theodor-Menzel-Werk in Berlin.

Ganz verschwunden ist die Diagnose Geschlechtsinkongruenz aus der ICD-11 zudem nicht – denn sie ist notwendig, um einen medizinischen Behandlungsbedarf zu begründen. Aufgeführt wird sie in einem gesonderten Kapitel, das in der Entwurfsfassung den Titel „Zustände mit Bezug zu sexueller Gesundheit“ trägt. Es handle sich demnach um einen „gesundheitsrelevanten Zustand“, der aber außerhalb des Bereichs psychischer Störungen angesiedelt sei, erklärte die Referentin. Definiert ist die Geschlechtsinkongruenz als eine ausgeprägte und persistierende Diskrepanz zwischen dem empfundenen Geschlecht einer Person und dem nach primären und sekundären Geschlechtsmerkmalen zugewiesenen Geschlecht.

Im Gegensatz zum DSM-5 ist dabei in der ICD-11 eine Geschlechtsdysphorie nicht zwingend erforderlich, erläuterte Dr. Mahler. Eine Indikation für körpermodifizierende Maßnahmen soll nach ICD-11 auch geprüft werden, wenn angenommen wird, dass es ohne diese Interventionen zu einem starken Leidensdruck kommt.

Die Angaben zur Häufigkeit der Geschlechterinkongruenz variieren je nachdem, ob diagnostische Kriterien oder Selbstzuschreibungen zugrunde gelegt werden. Nach repräsentativen Umfragen geben 2,5–8,4 % der Jugendlichen an, transgender oder gender-nonkonform zu sein, bei den Erwachsenen sind es 0,3–4,5 %. Sowohl bei Jugendlichen als auch bei Erwachsenen stiegen die Behandlungszahlen in den letzten Jahren an. So wurde auf Basis von Versichertendaten der BARMER zwischen 2014 und 2019 mehr als eine Verdreifachung der Hormonbehandlungen in beiden Altersgruppen errechnet, berichtete Dr. Mahler. Die Häufigkeit der Inanspruchnahme geschlechtsangleichender Maßnahmen stieg noch stärker an.

Es gebe aber keine Hinweise auf eine zunehmende Häufigkeit von „late onset gender dysphoria“, betonte sie. Das Alter, in dem sich Transpersonen erstmals „anders“ fühlen, habe sich über die Generationen hinweg nicht verändert. Gegenüber den Babyboomern nehmen Menschen späterer Generationen aber schon in jüngeren Jahren Hilfen in Anspruch und leben ihre Transsexualität eher offen aus. Obwohl sich die Bedingungen für Menschen mit Geschlechterinkongruenz verbessert haben, geben die Jüngeren eine höhere Belastung an als frühere Generationen. Für den sogenannten Minderheitenstress spielen drei Faktoren eine wichtige Rolle:

  • externe, objektiv belastende oder bedrohliche Ereignisse und Bedingungen,
  • das Erwarten solcher Ereignisse und die Aufmerksamkeit und Wachsamkeit, die dafür aufgebracht wird, sowie
  • internalisierende negative gesellschaftliche, religiöse und/oder moralische Grundannahmen. 

Infolge von Minderheitenstress steige erwiesenermaßen das Risiko für psychische Erkrankungen, berichtete Dr. Mahler. Die Inzidenz von Depression oder Suizidalität ist insbesondere dann erhöht, wenn es objektiv externe Belastungen und Bedrohungen gibt, Zurückweisungen erwartet werden und die Transphobie internalisiert ist. Besonders bedeutsam für psychische Probleme scheint die Verheimlichung oder Verschleierung der eigenen Identität zu sein.

Verbreiteten Vorurteilen trat Dr. Mahler klar entgegen: Es gebe keine nachgewiesene Zunahme von Personen mit Geschlechterinkongruenz – trans zu sein, ist demnach kein Trend. Verändert hat sich dagegen die Sichtbarkeit von Transpersonen und die Inanspruchnahme des Hilfesystems. Es sollten auch keineswegs alle Menschen mit Geschlechterinkongruenz geschlechtsangleichend behandelt werden. Weiterhin gelte die Leitlinienempfehlung einer differenzierten Einzelfallentscheidung unter umfassender Beteiligung von Fachpersonen, hob die Expertin hervor. Missverständnisse gebe es auch beim Selbstbestimmungsrecht: Dieses treffe keine Regelungen zu körpermodifizierenden Maßnahmen, sondern erleichtere lediglich die Namens- und Personenstandsänderung, betone Dr. Mahler.

Im Übrigen wollen ihrer Erfahrung nach gar nicht alle Betroffenen die körpermodifizierenden Maßnahmen ausschöpfen. Es gebe ein breites Spektrum individueller Unterschiede, was die zeitlichen Abläufe und die Wünsche der jeweiligen Person angehe, berichtete sie. Wichtig sei eine nicht diskriminierende und transsensible medizinische Versorgung. Diese hat das Ziel, vulnerablen Gruppen keinen Schaden zuzufügen und Minderheiten einen barrierefreien Zugang zum Gesundheitssystem zu ermöglichen.

Quelle: Kongressbericht DGPPN-Kongress 2024