Ferndiagnose von Krankheiten Die Stimme lässt tief blicken
Beim Sprechen erzeugen respiratorische und laryngeale Systeme einen Luftstrom. Im Stimmtrakt entsteht die Resonanz, die durch Artikulationsorgane (Zunge, Kieferknochen, weicher Gaumen) moduliert wird. Pathologische Prozesse in diesen Systemen rufen charakteristische Veränderungen in der Phonation hervor, schreiben Dr. Jaskanwal Sara von der Mayo Clinic in Rochester und Koautoren. Diese können für sich stehen oder ein Hinweis auf systemische Erkrankungen sein. Aus Tonaufnahmen von Patienten, die per Künstlicher Intelligenz (KI) ausgewertet werden, sollen Ärzte künftig Hinweise auf diese Krankheiten erhalten.
So können beispielsweise Lungenerkrankungen, kardiovaskuläre, endokrine oder psychische Störungen auf die Stimme schlagen. Bei kardiovaskulären Erkrankungen könnte z.B. eine chronische Hypoperfusion zu krankhaften Veränderungen am Larynx oder anderen Teilen des phonatorischen Apparats führen, was den Klang der Stimme beeinflusst. Auch eine Minderdurchblutung der neurologischen Strukturen, die am Sprechen beteiligt sind, könnte detektierbar sein. Das betrifft hauptsächlich zerebrale Netzwerke im linken frontalen und temporalen Kortex, aber auch mehrere Hirnnerven sowie spinale Nerven. Dem Vagusnerv etwa kommt eine besondere Bedeutung in der Phonation zu.
Eine Depression schlägt auf die Stimme
Akustische und linguistische Merkmale können ebenso als Epiphänomen mentaler Krankheiten auftreten. Bereits psychischer Stress ist mit messbaren Veränderungen der Stimme assoziiert. Er ruft eine Überaktivität der Amygdala und des sympathischen Nervensystems hervor und hat weitere physiologische Korrelate, die Merkmale der Phonation beeinflussen können.
Auch linguistische Aspekte sind von Interesse. Untersuchungen zeigen etwa, dass Menschen, die an einer Depression leiden, spezifische Sprachmuster aufweisen – die möglicherweise einem veränderten inneren Monolog geschuldet sind. Faktoren wie die Anzahl der Pausen, die Sprechgeschwindigkeit oder die Häufigkeit von Wortwiederholungen könnten ebenfalls auf psychische oder neurodegenerative Erkrankungen hindeuten.
Um Stimmbiomarker zu identifizieren, müssen aus einer großen Anzahl von Aufzeichnungen akustische und linguistische Merkmale extrahiert werden. In Kombination mit dem Wissen über bestehende Krankheiten der Sprecher lassen sich dann Zusammenhänge finden. Derzeit gibt es noch keinen Konsens darüber, welche Bedingungen Tonaufnahmen erfüllen müssen, um Biomarker daraus ableiten zu können. Dr. Sara und seinem Team zufolge wird es wichtig sein, dass die Analyse auch mit einfachen digitalen Fernaufnahmen oder Telefongesprächen funktioniert. Das reduziert den Aufwand und macht die Diagnostik unabhängig von der räumlichen Entfernung.
Außerdem gilt es den Datenschutz zu beachten: Eine Identifizierung der Patienten muss sicher und verschlüsselt stattfinden. Bis Stimmbiomarkern eine Rolle im Screening oder in der Bewertung von Therapieeffekten zukommt, ist der Weg aber ohnehin noch weit: Unter anderem bedarf es dafür erst großer prospektiver klinischer Studien.
Quelle: Sara JDS et al. Mayo Clin Proc 2023; 98: 1353-1375; DOI: 10.1016/j.mayocp.2023.03.007