Teilnahme am Straßenverkehr mit Diabetes Differenzierte Risikoabwägung statt German Angst

DDG Herbsttagung 2024 Autor: Antje Thiel

DDG wünscht sich eine differenzierte Risikobewertung von Menschen mit Diabetes für deren Teilnahme am Straßenverkehr. DDG wünscht sich eine differenzierte Risikobewertung von Menschen mit Diabetes für deren Teilnahme am Straßenverkehr. © tai111 – stock.adobe.com

Die geplante Aktualisierung der S2e-Leitlinie „Diabetes und Straßenverkehr“ verspricht wesentliche Neuerungen für Menschen mit Diabetes und deren Mobilität. Denn Diabetestechnologien wie die kontinuierliche Glukosemessung (CGM) und die automatisierte Insulindosierung (AID) ermöglichen eine differenziertere Betrachtung der Fahreignung.

Menschen mit Diabetes werden in Europa aufgrund übervorsichtiger Einschätzungen nach wie vor in vielen Berufsfeldern ausgeschlossen und diskriminiert, kritisierte Dr. Wolfgang Wagener, Ärztlicher Referent bei der Deutschen Rentenversicherung Rheinland in Düsseldorf. Das gelte für sicherheitsrelevante Berufe wie Luftfahrt, Feuerwehr, Polizei und Seedienst, aber auch für die Teilnahme am Straßenverkehr. „Hinter diesen Verordnungen steckt ein Zerrbild des Diabetes, insbesondere des Typ-1-Diabetes“, mahnte Dr. Wagener. Verwaltungen und Arbeitgeber, aber auch die Ärzteschaft neigten zu Zögerlichkeit und übertriebenen Sicherheitsdenken – der typischen „German Angst“.

„Dabei liegt es nicht im Belieben des Beurteilers, sich undifferenziert und pauschal zu artikulieren, sondern es geht um eine adäquate Risikobeurteilung mit Blick auf das Schadensmaß und die Schadenswahrscheinlichkeit“, betonte er. Technische Hilfen und Digitalisierung erforderten durchgängig neue Risikobewertungen für Menschen mit Diabetes. So lasse sich mit Hilfe von CGM mit Trendanzeigen und Alarmen das Risiko für gefährliche Hypoglykämien signifikant reduzieren. Wenn ein Mensch mit Typ-1-Diabetes mindestens 70 % der Zeit im Glukose-Zielbereich (70 bis 180 mg/dL, 3,9 bis 10,0 mmol/l) verbringe, könne man von einer stabilen Stoffwechsellage ausgehen. Gleiches gelte, wenn der Glukose-Variationskoeffizient (GV) unter 36 % liege.

Differenzierte Risikobewertung als Schlüsselkonzept

Diesem Umstand will die DDG mit der Aktualisierung ihrer entsprechenden Leitlinie gerecht werden, die im Laufe des Jahres 2025 veröffentlicht werden soll. Ein Schlüsselkonzept darin ist die differenzierte Risikobewertung: „Akzeptables Risiko, Grenzbereich, zu vermeidendes Risiko – diese Einteilung ermöglicht eine klare Klassifizierung“, sagte Dr. Wagener. Pauschale Ausschlüsse seien daher nicht gerechtfertigt. Daher verzichte die Leitlinie für den Straßenverkehr bewusst auf starre Glukose-Grenzwerte für das Fahren. Selbst bei peripherer Neuropathie gelte es, das Risiko individuell einzuschätzen: „Es gibt dazu keine klare Vorgabe. Wenn jemand aber den Untergrund nicht mehr spürt – ob Parkett, Sand oder Kiesel – dann sollte er nicht mehr Auto fahren, weil er das Pedal dann nicht mehr sicher bedienen kann.“

Nötig: Studien zu CGM und Unfallhäufigkeit

Der Psychologe Professor Dr. Bernhard Kulzer vom Diabeteszentrum Mergentheim ging auf den Zusammenhang zwischen Hypoglykämierisiko und Fahrsicherheit bzw. Fahreignung ein. Hier gebe es in der neuen Leitlinie etliche Neuerungen gegenüber der Version von 2017. „In den letzten sieben Jahren hat sich die Welt in der Diabetologie stark verändert“, erklärte er. Während 2017 z.B. Sulfonylharnstoffe bei Typ-2-Diabetes noch häufig eingesetzt worden seien und das Hypoglykämierisiko erhöhten, würden sie heute kaum noch verordnet. Darüber hinaus gebe es heute auch ein flächendeckendes Angebot an Schulungen, insbesondere für Menschen mit einer Hypogylämiewahrnehmungsstörung. „Das neue Schulungsprogramm HYPOS ist mittlerweile auch abrechenbar“, erklärte Prof. Kulzer.

Schulungen und rechtliche Situation

Die Fachpsychologin Diabetes (DDG) Eva Küstner, Mitglied im Ausschuss Soziales der DDG, verwies auf Schulungsprogramme wie PRIMAS oder MEDIAS, die jeweils ein Modul zum Thema Straßenverkehr enthalten. „Es ist wichtig, dass Sie das benutzen, denn Menschen mit Diabetes sollten die rechtlichen Grundlagen zumindest in Ansätzen kennen“, sagte sie. Patient*innen müssten wissen, dass es durchaus möglich sei, mit Diabetes LKW zu fahren. In der Schulung sollte daher thematisiert werden, welche Maßnahmen im Fall einer Hypoglykämie während der Fahrt getroffen werden müssen – „nämlich die nächste Haltemöglichkeit nutzen, Motor ausstellen, schnell wirksame Kohlenhydrate zu sich nehmen und dann warten, bis der Trendpfeil wieder nach oben zeigt“. Sie sollten aber auch wissen, dass eine Hypoglykämie das Risiko für weitere Hypoglykämien erhöht, die dann nicht mehr so gut wahrgenommen werden. 
Küstner erklärte aber auch den Bedeutungsunterschied zwischen Fahrsicherheit und Fahreignung: „Wenn die Fahrsicherheit nicht gegeben ist, handelt es sich um eine kurzfristige Einschränkung, die kompensiert werden kann.“ Unter dem Begriff „Fahreignung“ hingegen verstehe man die grundsätzliche Eignung, ein Fahrzeug zu bedienen. 

Doch den entscheidenden Unterschied mache der zunehmende Einsatz von CGM- und AID-Systemen, der das Risiko schwerer Hypoglykämien nachweislich signifikant reduziere. „Es ist allerdings sehr beschämend, dass es immer noch keine Studien dazu gibt, inwieweit CGM die tatsächliche Unfallhäufigkeit infolge von Hypoglykämien reduziert“, meinte der Psychologe. Überhaupt existiere nur eine überschaubare Zahl von Studien zu CGM und Straßenverkehr. „Das ist ein klarer Call-to-Action an die Forschungs-Community und Industrie.“

Dieser Auftrag gelte insbesondere angesichts aktueller Zahlen, wonach hierzulande etwa 80 % aller Menschen mit Typ-1-Diabetes und rund 60 % aller Menschen mit Typ-2-Diabetes, die eine ICT-Therapie praktizieren, mittlerweile ein CGM-System nutzen. „Diabetologen prognostizieren sogar, dass in fünf Jahren 95 % aller Menschen mit Typ-1-Diabetes CGM nutzen werden“, sagte Prof. Kulzer. Auch der Anteil von Menschen mit Typ-1-Diabetes, die Systeme zur automatisierten Insulindosierung (AID) nutzen, werde im selben Zeitraum von aktuell ca. 23 % auf etwa 50 % steigen.

Mit KI die Wahrscheinlichkeit für eine Hypoglykämie berechnen

Daneben versprechen aber auch neue Warnsysteme auf Basis künstlicher Intelligenz (KI) eine verbesserte Prädiktion von Hypoglykämien. So habe eine Studie am Diabetescenter Bern gezeigt, dass sich aus den Daten zum Fahr- und Blickverhalten, die inzwischen in fast jedem Auto aufgezeichnet werden, die Wahrscheinlichkeit für eine sich anbahnende Hypoglykämie berechnen lässt. Weil sich eine Hypoglykämie in erster Linie an klinischen Symptomen und weniger an einem bestimmten Glukosewert festmacht, habe das Leitliniengremium bewusst auf die Festlegung eines exakten Glukose-Grenzwerts verzichtet, „damit z. B. Schwangere mit ihren strengeren Zielbereichen nicht pauschal ausgeschlossen werden“, sagte Prof. Kulzer.

Keine Messung mehr vor jedem Fahrtantritt

Neu sei auch, dass nun keine pauschale Empfehlung zur Blutzuckermessung vor Fahrtantritt und regelmäßig alle zwei Stunden mehr gelte. „Lieferfahrer haben teilweise 50 Fahrtantritte pro Tag, da muss die Empfehlung alltagstauglich bleiben“, mahnte Prof. Kulzer. Stattdessen laute die Formulierung in der neuen Leitlinie nun, dass Menschen mit Diabetes „sicherstellen müssen, dass sie vor Fahrtantritt einen für sie ausreichend hohen Glukosewert (Empfehlung in den meisten Fällen ≥ 90 mg/dl (5 mmol/I); Schwangere ≥ 80 mg/dl (4,4 mmol/l) aufweisen, um das Risiko einer Hypoglykämie während der Fahrt zu minimieren und diese zu verhindern“. Ebenso sollten sie „vor Fahrtantritt sicherstellen, dass die Alarmgrenzen bei Verwendung eines CGM-Systems so hoch eingestellt sind, dass rechtzeitig vor einer Hypoglykämie gewarnt wird, und die Trendpfeile beachten“.

Quelle: Diabetes Herbsttagung 2024