Funktionelle neurologische Störungen Eher ein Software- als ein Hardware-Defekt

Autor: Dr. Dorothea Ranft

Funktionelle neurologische Störungen werden häufig fehldiagnostiziert. Funktionelle neurologische Störungen werden häufig fehldiagnostiziert. © Irene – stock.adobe.com

Patienten mit funktionellen neurologischen Störungen wird häufig Simulation unterstellt. Mit gründlicher Anamnese und gezielter Diagnostik lässt sich dieser Verdacht aber leicht ausräumen und der Weg zur interdisziplinären Behandlung ebnen. Die vier wichtigsten Krankheitsbilder im Überblick.

Den funktionellen neurologischen Erkrankungen liegen Fehlfunktionen im zerebralen Netzwerk zugrunde, die nicht mit Strukturveränderungen des Gehirns einhergehen. Diese Störungen sind ausgesprochen häufig und können die Lebensqualität der Betroffenen erheblich mindern, schreiben Prof. Dr. ­Mark ­Hallet von den ­National ­Institutes of ­Health in ­Bethesda und Kollegen. 

Zu den wichtigsten Manifestationen zählen Krampfanfälle, Bewegungsstörungen, kognitive Einbußen und funktioneller Schwindel. Viele Patienten zeigen gleich mehrere dieser Krankheitsbilder, entweder zum selben Zeitpunkt oder nacheinander. Mitunter fungieren organische Erkrankungen wie etwa vestibulärer Schwindel als Trigger. Psychische Risikofaktoren wie Vernachlässigung in der Kindheit oder Stress können vorliegen, haben diagnostisch aber keine Beweiskraft.

Funktionelle Krampfanfälle

Neurologisch bedingte funktionelle Krampfanfälle können leicht mit Epilepsie oder einer Synkope verwechselt werden. Bei der Einschätzung der Attacken ist man häufig auf Aussagen von Beobachtern angewiesen, ein pathognomonisches Krankheitszeichen gibt es nicht. Als Goldstandard für die Diagnose gilt die Aufzeichnung der Episoden im Video-EEG, auch Aufnahmen mit dem Smartphone sind hilfreich. 

Typisch für eine nicht-organische Genese ist die lange Dauer der Anfälle. Dabei kommt es zu asynchronen Bewegungen der Gliedmaßen oder zu einem Seit-zu-Seit-Schütteln des Kopfes. Für eine funktionell-neurologische Ursache spricht, wenn die Augen während des Anfalls geschlossen sind und der Betroffene hyperventiliert. Der Patient ist periiktal ansprechbar und erinnert sich an das Geschehen. 

Funktionell gestörte Motorik

Funktionelle neurologische Beeinträchtigungen der Motorik können sich mit abnormalen Bewegungen jeglicher Art manifestieren. Am häufigsten ist ein Tremor, gefolgt von Dystonie, Myoklonus und Gangstörungen. Typischerweise ist die willkürliche Bewegungsfähigkeit verändert, während die reflektorische und habituelle Motilität im selben Körperteil erhalten bleibt. Ein weiteres Zeichen für die funktionell-neurologische Genese ist der plötzliche Beginn der Symptome. Eine abrupt einsetzende Extremitätenschwäche lässt of irrtümlich an einen Schlaganfall denken. 

Für eine funktionelle neurologische Bewegungsstörung bei passender Anamnese spricht, wenn sich durch das Herunterhalten des zitternden Körperteils ein Tremor in einer anderen Körperregion erzeugen lässt. Dystonie macht sich häufig mit einem plantarflektierten Knöchel oder einer geballten Faust bemerkbar. Gehstörungen können den Eindruck erwecken, als ob der Patient über Eis laufe.

Anhaltender Schwindel

Eine weitere funktionelle neurologische Erkrankung ist das anhaltende Schwindelgefühl in aufrechter Körperhaltung. Die chronische Vertigo äußert sich mit Unsicherheit auf den Beinen und schwankendem Gang, aber ohne Zeichen für Drehschwindel. Die Beschwerden verstärken sich in Bewegung. Ausgelöst werden die Symptome etwa durch strukturell bedingte vestibuläre Störungen wie den benignen paroxysmalen Lagerungsschwindel. Auch Angsterkrankungen und leichte Hirnverletzungen kommen als Trigger in Betracht.

Kognitive Defizite

Neurologische Funktionsstörungen können sich auch mit kognitiven Defiziten manifestieren. Typisches Merkmal ist die innere Inkonsistenz: Die Betroffenen können eine mentale Aufgabe in einer bestimmten Situation, etwa im Beruf, gut lösen, nicht aber während der ärztlichen Konsultation. 

Im Gegensatz zu Menschen mit neurodegenerativen Erkrankungen machen sich Betroffene mit neurologisch-funktionell bedingten mentalen Einschränkungen um ihre Geistesleistung vielfach größere Sorgen als die Menschen in ihrer Umgebung. Außerdem können sie ihren vermeintlichen Gedächtnisverlust oft sehr genau beschreiben. Typischerweise handelt es sich um Alltagssituationen, die jedermann wohlbekannt sind. Etwa, dass man in einen Raum geht und dort angekommen nicht mehr weiß, was man dort erledigen wollte. Die Patienten fühlen sich häufig stark beeinträchtigt, obwohl sie in kognitiven Tests gut abschneiden.

Hinsichtlich der Pathophysiologie sind sich die geschilderten funktionellen Störungen sehr ähnlich. Alle vier gehen mit einer Fehlfunktion bei der Verarbeitung von sensorischem Input bzw. motorischem oder gedanklichem Output einher. Weiteres gemeinsames Element ist die partiell gestörte willentliche Kontrolle über den eignen Körper. 

Die Therapie bei funktionellen neurologischen Störungen beginnt mit der Erklärung und dem Einordnen der Symptome, eventuell unterstützt durch Informationen aus dem Internet. Bei beeinträchtigter Motorik kommen spezielle Methoden der Physiotherapie infrage, die gezielt auf Ablenkung setzen und auf ein Abtrainieren der pathologischen Bewegungen abzielen. Patienten mit funktionellen Anfällen können von einer kognitiven Verhaltenstherapie profitieren. 

Die häufig auftretenden Komorbiditäten wie Depression und Angsterkrankungen sollten gezielt behandelt werden, schreiben Prof. Hallett und Kollegen. Bei Bedarf sollte man einen Psychiater hinzuziehen. Auch die medikamentöse Begleittherapie ist zu überprüfen, so die Experten. Denn Opioide, Benzodiazepine und andere Sedativa können die Symptome einer funktionellen neurologischen Erkrankung verstärken.

Quelle: Hallet M et al. Lancet Neurol 2022; 21: 537-550; DOI: 10.1016/S1474-4422(21)00422-1