Funktionelle neurologische Störungen: Diagnose durch einfache Tests
Die Zeiten, in denen funktionelle neurologische Störungen automatisch als psychogen eingestuft wurden, sind vorbei. Inzwischen gehen Neurologen davon aus, dass den Beschwerden eine veränderte Informationsverarbeitung im Gehirn zugrunde liegt. Das ZNS trifft falsche Entscheidungen, ohne dass dies dem Patienten bewusst wird, schreiben Professor Dr. Jon Stone von der University of Edinburgh und Kollegen.
Funktionelle neurologische Störungen können und müssen anhand charakteristischer klinischer Befunde nachgewiesen werden – eine Ausschlussdiagnose genügt nicht mehr. Die Symptome reichen von Lähmungen, Zittern und Dystonien bis zu dissoziativen Anfällen, die einer Epilepsie oder Synkope ähneln. Die Betroffenen leiden oft unter multiplen motorischen und sensorischen Beschwerden. Eine vom Patienten erstellte Liste hilft, den Überblick zu behalten. Am Beispiel eines typischen Tages lässt sich der Schweregrad der Symptome einschätzen.
Zudem gilt es, körperliche Auslöser der funktionellen Störung wie Verletzungen, Migräne oder Synkopen zu eruieren. Einschneidende Lebensereignisse (z.B. Missbrauch in der Kindheit) finden sich bei Patienten mit funktionellen neurologischen Störungen zwar häufiger, aber keineswegs immer. Sie eignen sich deshalb nicht zur Diagnose, wie die Autoren betonen. Aufschlussreich ist dagegen die Frage nach dissoziativen Erfahrungen wie Depersonalisation und Derealisation. Dabei hat der Patient das Gefühl, von seinem Körper bzw. von der Welt um ihn herum getrennt zu sein, was massive Ängste auslösen kann. Betroffenen hilft es oft schon, zu erfahren, dass es dafür einen medizinischen Begriff gibt und viele Menschen ähnliche Erlebnisse haben.
Bei manchen weicht der Unterkiefer zur Seite
Der Verdacht auf eine funktionelle neurologische Störung lässt sich oft schon mit einfachen Tests erhärten. So verschwindet die Schwäche der Hüftextension beispielsweise, wenn das kontralaterale Bein gegen Widerstand angehoben wird (Hoover-Zeichen). Zum Nachweis eines funktionellen Tremors soll der Betroffene rhythmische Zangenbewegungen mit Daumen und Zeigefinger der Hand nachmachen, in der er weniger Beschwerden hat. Wenn das Zittern der anderen Hand dabei aufhört, sich dem vorgegebenen Rhythmus anpasst oder der Patient die Bewegung nicht nachmachen kann, spricht dies für eine funktionelle Störung.
Funktionelle Dystonien sind im Gegensatz zu körperlich bedingten in ihrer Position fixiert, etwa als geballte Faust oder invertierte Plantarflexion im Sprunggelenk. Wenn das Gesicht betroffen ist, kommt es zu einem Abweichen des Unterkiefers nach einer Seite mit Kontraktion von Platysma oder M. orbicularis oris.
Häufig manifestiert sich die funktionelle neurologische Störung auch mit Anfällen. Diesen Attacken gehen oft vegetative Beschwerden (Palpitationen, Schwitzen) und dissoziative Erfahrungen voran, die vielfach nur Sekunden anhalten und vom Patienten nicht erinnert werden. Von den wichtigsten Differenzialdiagnosen – Epilepsie und Synkope – lassen sich die Episoden meist schon anhand der Symptomatik unterscheiden. Für eine funktionelle Genese der Attacke sprechen fest geschlossene Augen, die sich oft nur schwer öffnen lassen, und eine Dauer von mehr als zwei Minuten. Viele Patienten hyperventilieren während der Episode und weinen danach.
Epileptische Anfälle beginnen hingegen häufig mit einem Schrei und werden von einer eher röchelnden Atmung begleitet. Synkopen sind meist kürzer und die Augen bleiben offen. Zungenbiss und Harninkontinenz können bei allen drei Erkrankungen auftreten. Bei der Diagnose dissoziativer Anfälle können von Freunden oder Familienangehörigen aufgezeichnete Handyvideos helfen.
Auch mit einer Beeinträchtigung des Sehvermögens muss man bei Patienten mit funktionellen neurologischen Störungen rechnen. Typisch ist eine röhrenförmige Einengung des Gesichtsfelds.
Eher ein Software- als ein Hardware-Problem
Dessen Ausdehnung bleibt in einem Abstand von 1,50 m ebenso eng wie in einer Distanz von 50 cm, obwohl der Durchmesser nach den physikalischen Gesetzen mit der Entfernung zunehmen müsste. Bei manchen Patienten verschmälert sich das Gesichtsfeld auch mit zunehmender Testdauer.
Eine passende Erklärung erleichtert es den Betroffenen, ihre funktionelle Diagnose anzunehmen. Die Autoren verweisen dabei auf eine Analogie aus der Computer-Welt: Es handelt sich eher um ein Software-Problem als um einen Hardware-Defekt. Auch für die dissoziativen Anfälle haben sie ein passendes Bild: Bei Alarmstufe Rot flüchtet das Gehirn in einen Trancezustand. Die Tatsache, dass Beinlähmung und Zittern beim Testen vorübergehend verschwinden, kann beim Patienten die Hoffnung wecken, dass sich auch das Gehirn z.B. mit Physiotherapie umschulen lässt. Für Hausärzte, die ja oft der erste Ansprechpartner sind, haben die Verfasser noch eine beruhigende Nachricht: Es genügt, Verdacht zu schöpfen, die endgültige Diagnose ist Sache des Neurologen.
Quelle: Stone J et al. BMJ 2020; 371: m3745; DOI: 10.1136/bmj.m3745