Funktionelle neurologische Störungen Schluss mit dem Ausschluss
Funktionelle neurologische Störungen sind relativ häufig und für die betroffenen Menschen oft sehr belastend. Sie finden sich vor allem bei jüngeren Erwachsenen. Der Behinderungsgrad kann ähnlich hoch wie bei Morbus Parkinson oder Epilepsie sein, in vielen Fällen ist die Lebenqualität massiv eingeschränkt. Eine möglichst frühe Diagnose mit bestmöglicher Therapie und umfassender Rehabilitation ist entscheidend für die Prognose der Patienten, schreiben Prof. Dr. Selma Aybek vom Inselspital der Universitätsklinik Bern und Prof. Dr. David Perez, Massachusetts General Hospital in Boston. Die Variante, die Krampfanfällen ähnelt, und die funktionellen neurologischen Störungen im Bereich der Motorik sind die beiden häufigsten Subtypen der Erkrankung. Für beide Formen müssen nach DSM-5* vier Kriterien erfüllt sein.
Wertschätzend aufklären
Ein Schlüsselmoment in der Behandlung und der erste Schritt in die Therapie ist die Diagnosevermittlung. Begriffe wie „hysterisch“ oder „Pseudokrämpfe“ sollte man in jedem Fall vermeiden, sie sind schon lange obsolet. Auch Phrasen wie „Ich habe gute Nachrichten für Sie“ oder „Ihre Symptome sind nicht ohne Weiteres erklärbar“ sind wenig hilfreich, meinen Prof. Aybek und Prof. Perez.
Ein guter Einstieg in die Therapie ist ihrer Erfahrung nach, die Erkrankung klar als funktionelle neurologische Störung zu bezeichnen und die Beschwerden als „echt“ und „häufig“ zu benennen. Dann sollte man dem Patienten eine kurze mechanistische Erklärung anbieten (z.B. „Das Gehirn ist kurzfristig überlastet und macht dicht“, „Es handelt sich eher um ein Software- und nicht um ein Hardware-Problem“) und auf effektive Behandlungsmöglichkeiten hinweisen.
DSM-5-Kriterium A
Es liegen ein oder mehr Symptome mit Veränderung der Willkürmotorik oder von sensorischen Funktionen vor. Es wird zwischen Negativsymptomen (z.B. Bewegungsstarre, Schwäche) und Positivsymptomen (z.B. Tremor, Zuckungen, Dystonie) unterschieden.
DSM-5-Kriterium B
Die klinischen Befunde lassen sich nicht mit bekannten neurologischen oder anderen Störungsbildern in Einklang bringen. Bei Gangauffälligkeiten spricht z.B. ein monoplegisches Hinterherziehen des Beines für eine funktionelle neurologische Störung. Weitere Zeichen sind sichtbare Anstrengung beim Laufen, „sichere“ Stürze etwa in der Nähe eines Stuhls oder gegen eine Wand, ausgeprägte Langsamkeit, extremes Zögern oder Vorsicht sowie eine unökonomische Körperhaltung. Für fast jede motorische Auffälligkeit gibt es auch typische Positivsymptome, die auf eine funktionelle neurologische Störung als Ursache hinweisen, schreiben die beiden Neurologen.
Ähnliches gilt für den Krampfanfalltyp, für den z.B. eine Dauer über mehr als zwei Minuten als hochspezifisches Indiz gilt. Auch ein während der Episode erhaltenes Bewusstsein mit Erinnerung an den Anfall, geschlossene oder zugekniffene Augen, asynchrone Beinbewegung und eine schnelle Erholung deuten auf eine funktionelle neurologische Störung. Ein EEG, das während eines Anfalls erstellt wird, kann bei der Abgrenzung gegenüber Epilepsie hilfreich sein.
DSM-5-Kriterium C
Die Symptome oder Defizite lassen sich nicht besser durch andere körperliche oder psychische Erkrankungen erklären als durch das Vorliegen einer funktionellen neurologischen Störung. Möglicherweise ist eine Reihe weiterer Untersuchungen vonnöten, damit dieses Kriterium erfüllt ist. Unbedingt zu bedenken ist, dass der Patient neben der funktionellen Störung weitere neurologische Erkrankungen aufweisen kann.
DSM-5-Kriterium D
Die Symptome müssen zu einem klinisch relevanten Leidensdruck oder zu deutlichen Einschränkungen im Sozial- und Berufsleben oder in anderen wichtigen Bereichen führen. Dieses Kriterium, so die beiden Autoren, ist in der Regel schon dadurch erfüllt, dass die Betroffenen wegen ihres Problems ärztliche Hilfe suchen.
Bei einigen wenigen Patienten, insbesondere wenn eine Störung vom Krampfanfalltyp vorliegt, kommt es bereits durch die Diagnosevermittlung zur Besserung. Ansonsten sollte bei allen Formen eine ausführliche Psychoedukation mit umfassender Aufklärung über die Erkrankung erfolgen.
Therapie der ersten Wahl bei motorischen Auffälligkeiten ist eine speziell auf das Störungsbild abgestimmte Physiotherapie mit Retraining und Aufmerksamkeitslenkung. Ergotherapie kann helfen, ist in ihren Effekten aber weniger gut untersucht. Bewährt hat sich die kognitive Verhaltenstherapie. Andere psychotherapeutischen Methoden wie achtsamkeitsbasierte Verfahren, psychodynamische Psychotherapie und Gruppenpsychotherapie werden zurzeit evaluiert. Weitere Optionen sind Hypnose, Botulinumtoxin bei motorischen Störungen oder die transkraniale Magnetstimulation.
Nicht vergessen werden darf, dass Patienten mit funktionellen neurologischen Störungen häufig unter psychischen Krankheiten wie Depression, Angsterkrankungen oder posttraumatischen Belastungsstörungen leiden. In einer solchen Situation können Psychopharmaka zum Einsatz kommen, funktionelle neurologische Störungen alleine stellen aber keine Indikation dar. Belastende Lebensereignisse wie sexueller Missbrauch in der Kindheit kann mit schwererer Symptomatik und vermehrter psychischer Komorbidität einhergehen.
Grundsätzlich sollten bei allen betroffenen Personen regelmäßige Nachuntersuchungen erfolgen. Neu auftretende Symptome müssen sorgfältig abgeklärt werden und dürfen nicht ungeprüft den funktionellen neurologischen Störungen zugeordnet werden.
* Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders 5th Edition
Quelle: Aybek S, Perez DL. BMJ 2022; 376: o64; DOI: 10.1136/bmj.o64