MS-Phänotypen Nur eine Frage der neurologischen Reserve
Zu den biologischen Grundlagen der Multiplen Sklerose gab es in den letzten Jahren neue Erkenntnisse. Damit wurde klar, dass keine genetischen oder immunologischen Unterschiede zwischen der schubförmigen und den progredienten MS-Formen nachweisbar sind, schreiben Dr. Timothy Vollmer von der Neurologischen Abteilung der University of Colorado, Aurora, und Kollegen. Die berichteten pathologischen und radiologischen Differenzen zwischen der primär und sekundär progredienten MS sowie zwischen der progredienten und schubförmigen Erkrankung sind ihrer Auffassung nach eher quantitativer als qualitativer Art. Das stützte die Sichtweise, dass es sich bei den MS-Subtypen nicht um unterschiedliche biologische Entitäten handelt, sondern um Teile eines einzigen Krankheitsspektrums.
Damit stellt sich jedoch die Frage, was den progredienten Verlauf auslöst? Als Erklärungsmodell stellen die Ärzte das Konzept der neurologischen Reserve vor, das auf physiologischen Vorgängen fußt.
80 % der Hirnläsionen bleiben klinisch stumm
Bei den meisten Menschen setzt nach dem 20. Lebensjahr eine Hirnatrophie aufgrund des Untergangs von Neuronen ein – dennoch können sie aufgrund ihrer zerebralen und kognitiven Reserve (s. Kasten) bis ins hohe Alter eine normale neurologische Funktion aufrechterhalten.
Hirnvolumen und intellektuelle Fähigkeiten zählen
Gesunder Lebensstil zum Schutz kognitiver Reserven
Sie sind daher überzeugt davon, dass die Multiple Sklerose als Kontinuum von einer schubförmigen zu einer progredienten Erkrankung fortschreitet. Dass manche Patienten früher eine Krankheitsprogression entwickeln als andere, erklären sie mit einer unterschiedlichen Ausprägung der individuellen neurologischen Reserve. Zu deren Schutz empfehlen die Ärzte Strategien wie gesunde Ernährung und aktiven Lebensstil, was gleichzeitig die Behandlung möglicher Komorbiditäten unterstützt. Zudem trage eine frühe Intervention mit hocheffektiven krankheitsmodifizierenden Medikamenten dazu bei, dass die Patienten einen gesunden, aktiven Lebensstil einnehmen und ihre neurologische Funktion verbessern können.Quelle: Vollmer TL et al. Neurol Clin Pract 2021; 11: 342-351; DOI: 10.1212/CPJ.0000000000001045