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Gestörte Darmbarriere Einfallstor für ZNS-Erkrankungen

Autor: Dr. Dorothea Ranft

Auch zur Multiplen Sklerose ließ sich im Tiermodell ein günstiger Einfluss der probiotischen Behandlung auf motorische und kognitive Einschränkungen ermitteln. Auch zur Multiplen Sklerose ließ sich im Tiermodell ein günstiger Einfluss der probiotischen Behandlung auf motorische und kognitive Einschränkungen ermitteln. © ag visuell – stock.adobe.com
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Erkrankungen des Gehirns werden häufig von Störungen der Darmbarriere begleitet. Dies spricht dafür, dass sich Veränderungen der intestinalen Integrität als Marker für neurologische Erkrankungen wie Parkinson oder Demenz und eventuell sogar als Therapieziel eignen.

Die Darmbarriere besteht im Wesentlichen aus drei Schichten: Mukus, Epithel und vaskuläre Abgrenzung. Sie spielt eine entscheidende Rolle für Gesundheit und Krankheit, weil sie die Absorption von Nährstoffen erleichtert und das Eindringen von Pathogenen verhindert, schreiben Dr. Carolina Pellegrini von der Universität Pisa und Kollegen.

Von großer Bedeutung ist auch die Achse von Mikrobiom, Darm und Gehirn. Diese bidirektionale Verbindung ermöglicht eine Kommunikation zwischen Cerebrum und Magen-Darm-Trakt. Eine Störung der intestinalen Barrierefunktion kann das Mikrobiom verändern und bei Gehirnerkrankungen inflamma­torische Reaktionen auslösen. Die intestinale Barriere wird heute als dynamisches Netzwerk verstanden, das den Übertritt von bakteriellen Produkten wie z.B. kurzkettigen Fettsäuren in den Blutkreislauf und damit auch in das Gehirn reguliert. Dort lösen die Metaboliten nicht nur Krankheiten aus, sie helfen auch bei der Koordination physiologischer Prozesse.

Die Ergebnisse klinischer und präklinischer Studien deuten darauf hin, dass Störungen der intestinalen Barrierefunktion mit der Manifestation zerebraler Erkrankungen einhergehen. In Tiermodellen wurde ein solcher Zusammenhang für Parkinson, Morbus Alzheimer, Multiple Sklerose und amyotrophe Lateralsklerose gezeigt. Zudem fiel auf, dass eine Modulation des Mikrobioms ebenso wie die Aktivierung von 5-Hydroxytryptamin (5-HT4) die Symptome bessert, indem sie die Wandfunktion repariert.

Allerdings gibt es noch diverse offene Fragen. So ist die kausale Beziehung zwischen Darmwandstörung und ZNS-Pathologie bisher nicht gesichert. Außerdem weiß man noch nicht, ob sich die intestinalen Veränderungen bereits vor der zentralnervösen Störung oder erst danach entwickeln.

Aufgrund der bisherigen Ergebnisse scheint es denkbar, dass frühe Veränderungen der Darmbarriere zu einer Verlagerung von Pathogenen in die enterische Mukosa beitragen. Die Folge wäre eine Verbreitung im Blutkreislauf mit eventuellem Übertritt ins Gehirn. Zudem könnten funktionale Störungen der Grenzschicht enterische Immunreaktionen und inflammatorische Prozesse auslösen. Diese bewirken dann neuroplastische Veränderungen im enterischen Nervensystem, die über den Signalweg zwischen Darm und Gehirn zerebrale Erkrankungen triggern.

Wenn diese pathophysiologische Hypothese zutrifft, eignet sich die Evaluation der intestinalen Barrierefunktion und -integrität eventuell zur Frühdiagnose einer Darmbeteiligung bei ZNS-Erkrankungen. Für das Vorgehen empfehlen die Autoren einen einfachen Algorithmus: Patienten mit gesicherter oder vermuteter zerebraler Störung (Anamnese, Klinik) sollten gezielt auf intestinale Symptome untersucht werden. Wenn derartige Beschwerden vorliegen, wird im nächsten Schritt eine Koloskopie empfohlen. Dies wird eventuell ergänzt durch eine weitere bildgebende Diagnostik, mit der sich Struktur und Inflammation der Darmbarriere darstellen lassen. Wenn sich keine Veränderungen finden, ist eine enterale Beteiligung unwahrscheinlich. Sinnvoll wären auch Blut- und Urintests, bisher stehen jedoch keine entsprechenden Biomarker zur Verfügung.

Eventuell lassen sich die neuroinflammatorischen Prozesse und Symptome auch therapeutisch beeinflussen. Dazu könnte sich eine Modulation des intestinalen Mikrobioms eignen. Am häufigsten eingesetzt werden Probiotika, die bestimmte Bakterienmischungen enthalten (Lactobacillus casei etc.). Kleine Studien sprechen für eine mögliche Wirksamkeit bei ZNS-Erkrankungen. So konnte für Alzheimerpatienten (n = 20) innerhalb von 28 Tagen eine Reduktion der fäkalen Haptoglobinspiegel gezeigt werden, was für eine Verbesserung der intestinalen Barrierefunktion spricht. Bei Parkinsonpatienten (n = 32) führte die Applikation resistenter Stärke, die im Dickdarm bakteriell abgebaut wird, zu einer Reduktion von nicht-motorischen Symptomen, Depressivität und Obstipation. Auch zur Multiplen Sklerose ließ sich im Tiermodell ein günstiger Einfluss der probiotischen Behandlung auf motorische und kognitive Einschränkungen ermitteln.

Es ist allerdings noch unklar, ob die Wiederherstellung des intestinalen Mikrobioms auch die Funktion der Darmbarriere verbessert und die Progression zentralnervöser Erkrankungen aufhält. Außerdem kennt man den exakten Mechanismus der Interaktion zwischen ­Intestinum und Gehirn noch nicht.

Quelle: Pellegrini C et al. Lancet Gastroenterol Hepatol 2022; DOI: 10.1016/S2468-1253(22)00241-2