Gesundheitskompetenz: Wenig Bildung, schlechte Gesundheit?
Die wichtigste – und dabei sehr ernüchternde – Erkenntnis aus sämtlichen Studien zum Thema ist, dass Gesundheitskompetenz weiterhin stark mit dem Bildungsniveau assoziiert ist. Prof. Graf präsentierte zunächst das Drei-Ebenen-Modell nach Nutbeam, wonach Menschen fähig sein müssen, Gesundheitsinformationen zu lesen und sich in einfachen Worten schriftlich auszudrücken, um überhaupt eine bloße funktionale Ebene zu erreichen.
Doch erst mit fortgeschrittenen kognitiven und sozialen Kompetenzen ist es möglich, selbst eine aktive Rolle im Gesundheitswesen einzunehmen – Stichwort Empowerment – bzw. sich sogar kritisch damit auseinanderzusetzen.
„Gesunder Lebensstil ist mit vielen Imperativen verbunden“, sagte Prof. Graf. Dazu brauche es nicht nur Wissen über gesunde Ernährung (Food Literacy), sondern auch „Physical Literacy“, wie sie etwa im Modell von Edwards et al. 2017 beschrieben wurde. Einfluss auf die Physical Literacy nähmen zum einen individuelle Faktoren wie Alter, Geschlecht, körperliche Fähigkeiten, aber auch die emotionale, psychosoziale und kognitive Entwicklung. Darüber hinaus aber auch die Ein- bzw. Wertschätzung von Bewegung, (Sport-)Partizipation, soziodemographische Faktoren, Umgebungsfaktoren wie Bewegungsräume und -angebote, aber auch ökonomische Aspekte.
Die neuesten Erkenntnisse zur Gesundheitskompetenz der Bevölkerung in Deutschland stammen aus der Erhebung von Schaeffer et al. von 2018, wonach über die Hälfte der Menschen in diesem Land nur über eine problematische oder gar gänzlich inadäquate Gesundheitskompetenz verfügt. Als Risikofaktoren machten Schaeffer et al. neben einem geringen Bildungsgrad, höherem Lebensalter, chronischen Erkrankungen auch einen Migrationshintergrund aus.
Es ist wichtig, kontinuierlich an der Kompetenz zu arbeiten
Trotz frustrierender Rückschläge sei es wichtig, immer weiter an der Gesundheitskompetenz der Patienten zu arbeiten, meinte Prof. Graf und verwies auf verschiedene Studien zur Epigenetik aus den vergangenen Jahren: „Epigenetische Effekte sind zum Teil flüchtig, teilweise aber auch transient über mehrere Generationen. Durch unseren eigenen Lebensstil können wir also nicht nur unsere eigene Gesundheit stärken, sondern auch die kommender Generationen.“
Im Plenum regte sich angesichts von so viel Wissenschaft allerdings auch Unmut. So merkte ein Zuhörer an: „Wir brauchen ein gesamtgesellschaftliches Konzept, nicht immer mehr Studien!“ Prof. Graf gab dem Kritiker recht: „Wir haben kein Wissens-, sondern ein Umsetzungsproblem. Doch trotzdem brauchen wir Daten, um unser Handeln belegbar zu machen.“ Eine Form des Handelns könne z.B. die zielgruppengerechte, fundierte Gesundheitsaufklärung mit einheitlichen einfachen Botschaften sein, damit auch Menschen mit niedrigem Bildungsniveau in Bezug auf ihr Gesundheitsverhalten zumindest eine funktionale Basis erreichen können.
Kongressbericht: Diabetes Kongress 2019