Neuroradiotoxizität Irreversible Hirnschäden durch Strahlentherapie
Bestrahlung führt zur Bildung freier Radikale und oxidativem Stress. Es kommt zur Hochregulation proinflammatorischer Signalwege und Zunahme aktivierter Mikroglia. Beides kann die Neurogenese hemmen, wie Dr. Michael Kosmin von der Clinical Oncology des University College London Hospitals NHS Foundation Trust und Dr. Jeremy Rees vom National Hospital for Neurology and Neurosurgery in London schreiben. Auch Endothelzellen können durch die Bestrahlung zugrunde gehen, was den Boden bereitet für Thrombusbildung und Okklusion kleiner Gefäße. Die hochreaktiven freien Radikale induzieren zudem verschiedene Arten von DNA-Schäden. Nicht immer lassen sich diese durch Reparaturmechanismen korrigieren, um die genomische Stabilität zu erhalten. Die Akkumulation schadhafter DNA führt entweder zum Zelltod oder zu Spätfolgen, z.B. sekundäre Tumoren.
Akute Enzephalopathie innerhalb weniger Stunden
Innerhalb von zwei Wochen nach Beginn einer Hirnbestrahlung, gelegentlich schon wenige Stunden nach der ersten Dosis, kann sich eine akute Enzephalopathie entwickeln. Pathophysiologisch liegt ihr wahrscheinlich eine Unterbrechung der Blut-Hirn-Schranke mit Anstieg des intrakraniellen Drucks zugrunde. Benommenheit, Kopfschmerzen, Nausea, Erbrechen und eine Verschlechterung vorbestehender neurologischer Defizite zählen zu den wichtigen Symptomen.
Je größer der bestrahlte Tumor und je höher die Dosis pro Fraktion, desto häufiger ist diese Akutkomplikation. Unter der heute für die Ganzhirnbestrahlung üblichen Dosierung/Fraktionierung von 20 Gy in fünf Fraktionen pro Woche oder 30 Gy in zehn Fraktionen über zwei Wochen kommt eine akute Enzephalopathie allerdings kaum mehr vor.
Eine Enzephalopathie kann jedoch auch verzögert, d.h. zwei Wochen bis sechs Monate nach Ende der Bestrahlung auftreten, möglicherweise verursacht durch eine transiente Demyelinisierung oder Schädigung der Oligodendroglia. Symptome, die darauf hindeuten, sind Fatigue, Benommenheit, Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsdefizite bis hin zur Somnolenz.
Wenn sich 6–12 Wochen nach Ende der Bestrahlung vorbestehende neurologische Defizite verschlimmern, wird man als erstes an ein Fortschreiten des Tumors denken, was in der MRT nicht unbedingt erkennbar sein muss. Es kann sich aber durchaus um eine Pseudoprogression handeln, die z.B. bei bis zu 30 % der Glioblastompatienten unter konkomitanter Behandlung mit Temozolomid und Bestrahlung beobachtet wird. Interessanterweise scheint sie mit einem besseren Ansprechen des Tumors einherzugehen, erklären Dr. Kosmin und Dr. Rees. Die Symptome bilden sich innerhalb weniger Wochen oder Monate spontan zurück.
Spätkomplikationen machen sich frühestens sechs bis zwölf Monate nach Ende der Radiotherapie bemerkbar. Sie sind meist irreversibel und gekennzeichnet durch Leukenzephalopathie, Neuronenverlust und beschleunigte Vaskulopathien. Am häufigsten finden sich Radionekrosen. Sie kommen vor allem nach fokaler stereotaktischer Bestrahlung von Metastasen oder arteriovenösen Malformationen vor, aber auch nach Bestrahlung extrakranialer Tumoren im Hals-Nacken-Bereich, wenn gesunde Hirnanteile im Strahlenfeld liegen. Durch Reduktion der fraktionellen Dosis und verbesserte Zielgenauigkeit der Bestrahlung ist dieses Problem ebenfalls seltener geworden. Radionekrosen sind mit dem Standard-MRT kaum von Tumorrezidiv oder -progression zu unterscheiden. Besser gelingt dies durch eine Kontrast-Clearance-Analyse oder eine MRT-Aufnahme mit verzögerter Kontrastsequenz (treatment response assessment maps, TRAMS).
Kognitive Defizite im Rahmen einer spät auftretenden strahleninduzierten Enzephalopathie lassen sich vor allem bei Erwachsenen beobachten, die als Kinder Hirntumoren überlebt haben, und bei Patienten mit niedriggradigen Gliomen, die sich für viele Jahre in Remission befanden. Im MRT fallen Veränderungen T2-gewichteter Signale in der subkortikalen weißen Substanz und Hirnatrophie auf. Die meisten Patienten bleiben damit stabil, manche verschlechtern sich aber allmählich.
Zweittumoren drohen noch Jahrzehnte später
Ein radiatioinduzierter Normaldruckhydrozephalus kann zur Demenz führen. Ventrikuloperitoneale Shunts bringen in diesen Fällen wenig Besserung. 80 % der Betroffenen verschlechtern sich, die meisten versterben innerhalb von vier Jahren nach Symptombeginn.
Nach einer Bestrahlung besteht ein erhöhtes Risiko für Zweittumoren im ehemaligen Bestrahlungsfeld – bis zu Jahrzehnte später. Am häufigsten treten Meningeome auf, seltener Gliome und Sarkome. Da die Möglichkeiten einer weiteren Radiotherapie sehr eingeschränkt sind, haben diese Tumoren eine schlechte Prognose.
Zu den möglichen Spätfolgen einer Bestrahlung gehört auch eine Vaskulopathie im vormaligen Strahlenfeld. Sie ist eine Form der beschleunigten Atherosklerose, betrifft oft untypische Stellen – z.B. die distale A. carotis interna – und kann zu Hämorrhagien oder Schlaganfällen führen. Vaskuläre Malformationen werden ebenfalls als Spätschäden einer Radiotherapie beobachtet sowie das in seiner Pathogenese unklare SMART-Syndrom, eine Kombination aus migräneartigen Kopfschmerzen und kortikaler Dysfunktion mit Krampfanfällen und fokalen Defiziten.
Wie das Gehirn kann das Rückenmark ebenso akut und langfristig durch eine Strahlentherapie geschädigt werden. Da spinale Tumoren sehr selten sind, gerät das Rückenmark vor allem in der Radiotherapie von Hals-Kopf-Tumoren oder paravertebralen Tumoren, z.B. Hogdkin-Lymphom, ins Strahlenfeld.
Quelle: Kosmin M, Rees J. J Pract Neurol 2022; DOI: 10.1136/pn-2022-003343