Junge Diabetiker sind eher unterversorgt, ältere dagegen überversorgt

Autor: Michael Brendler

Junge Diabetespatienten ohne oder mit nur wenigen Begleiterkrankungen bekommen tendenziell zu selten Insulin. Junge Diabetespatienten ohne oder mit nur wenigen Begleiterkrankungen bekommen tendenziell zu selten Insulin. © Sherry Young – stock.adobe.com

Bei drohender Hypoglykämie möglichst zurückhaltend agieren, lautet ein Grundsatz der Diabetestherapie. Ist der Patient jedoch jung und vergleichsweise gesund, sollten zur Prävention von Spätkomplikationen eher tiefe HbA1c-Werte angestrebt werden. In der Praxis scheint genau das Gegenteil gang und gäbe zu sein.

Generell soll für Typ-2-Diabetiker ein HbA1c-Wert unter 7 % angestrebt werden, so die Empfehlungen der American Diabetes Association (ADA). Gleichzeitig soll man diesen Zielwert flexibel handhaben, heißt es weiter: Im höheren Lebensalter sowie bei kardiovaskulären Krankheiten, Demenz, COPD und anderen Komorbiditäten kann man die Sache auch laxer angehen. Denn dann übersteigt das Risiko für Hypoglykämien und andere Nebenwirkungen oft den Nutzen, der von einer aggressiven Diabetestherapie zu erwarten wäre.

HbA1c von Oldies im Schnitt 0,8 Prozentpunkte niedriger

Zusammen mit Kollegen hat die Internistin Dr. Rozalina G. McCoy von der Mayo Clinic in Rochester untersucht, inwieweit sich diese Vorgaben in der Versorgung von Menschen mit Typ-2-Diabetes widerspiegeln. Beim Auswerten der Gesundheitsdaten von mehr als 194 000 US-Amerikanern mit der Stoffwechselerkrankung stieß sie auf ein Paradoxon: Jüngere Patienten ohne oder mit nur wenigen Begleiterkrankungen, für die eigentlich strenge Behandlungsziele angebracht wären, erhielten tendenziell zu selten Insulin und Sulfonylharnstoffe. Ihre älteren, eher komorbiden und stärker zur Unterzuckerung neigenden Leidensgenossen hingegen waren eher überversorgt. Mit einem durchschnittlichen HbA1c-Wert von 6,9 % erreichten Patienten im Alter von 75 Jahren und älter nahezu Idealwerte, ohne dass das für sie tatsächlich ratsam gewesen wäre. Diejenigen zwischen 18 und 44 Jahren dagegen kamen auf einen mittleren Wert von 7,7 %. Und das, obwohl bei ihnen der Schutz vor diabetischen Spätkomplikationen im Vordergrund stehen sollte und eine intensive Therapie angebracht gewesen wäre.

Bei Patienten mit fortgeschrittenen Begleiterkrankungen fanden sich deutlich niedrigere HbA1c-Werte (7 %) als bei Kranken ohne Komorbiditäten (7,4 %). Zudem erhielten Senioren deutlich häufiger eine Insulintherapie, während die Jüngeren selbst bei HbA1c-Werten über 10 % in der Hälfte der Fälle ohne eine solche Behandlung über die Runden kommen mussten.

Quelle: McCoy RG et al. BMJ Open Diabetes Res Care 2020; DOI: 10.1136/bmjdrc-2019-001007