„Mentales Tatütata“ bei Oberbauch- oder Rückenschmerzen

Autor: Dr. Sascha Bock

Als Sie beim Patienten eintreffen, ist wieder alles okay? Trotzdem: Wer eine instabile Angina hatte, muss in die Klinik. Als Sie beim Patienten eintreffen, ist wieder alles okay? Trotzdem: Wer eine instabile Angina hatte, muss in die Klinik. © iStock/MarkusBeck

Begegnet Ihnen die Diagnose akutes Koronarsyndrom im Notdienst häufig? Oder ist es eine Rarität? Sollte Letzteres zutreffen, dann haben Sie vermutlich schon das ein oder andere kardiale Ereignis übersehen ...

Um 22 Uhr schlägt ein Hausarzt bei einem 73-jährigen Mann auf, der über Schmerzen im Oberbauch klagt. Der Allgemeinmediziner diagnostiziert eine Gastritis. 20 Minuten später ist der Patient tot. Ähnlich erging es dem 70-Jährigen, dem ein Kollege wegen Erbrechen ohne begleitende Diarrhö Metoclopramid injiziert hatte. Nach einer Stunde lebte der Patient nicht mehr. Von solchen Schauergeschichten hat der Allgemein- und Notarzt Dr. Wolfgang Tonn aus Heidelberg noch mehr auf Lager. Sie alle haben eins gemeinsam: Ein Myokardinfarkt wurde übersehen.

„Gesund“ aus der Klinik – einen Monat später dann tot

Pro Jahr gibt es in Deutschland etwa 65 000 plötzliche Herztode. In 80 % der Fälle findet sich letztlich ein Infarkt als Ursache. Ein Sechs­tel der Betroffenen lag im Monat vor dem Ereignis im Krankenhaus, ohne dass ein kardiales Leiden entdeckt wurde, sagte Dr. Tonn. Für den Kollegen bedeutet das im Umkehrschluss, dass im niedergelassenen Bereich noch viel mehr Herzerkrankungen durchs Raster fallen. Schließlich würden die Patienten nur bei deutlichen Symptomen in der Klinik landen.

Patienten beharren darauf, eine Gastritis zu haben

Mehr als die Hälfte aller Infarkte geht dem Experten zufolge nicht mit Herz- bzw. Thoraxschmerzen einher. Diese charakteristischen Beschwerden begegnen dem Hausarzt ohnehin selten, denn Betroffene wählen in solchen Fällen meist direkt den Notruf. Im Bereitschaftsdienst dominieren folglich atypische kardiale Ereignisse, die gerne fehlinterpretiert werden.

Die Klassiker unter den Aussagen der Patienten­ lauten bei einem atypischen Infarkt: „Herr Doktor, ich habe eine Magenschleimhautentzündung“ oder „Ich muss zum Orthopäden“. Die Herzkranken beharren darauf, dass ihre Symptome vom Magen oder von der Wirbelsäule kommen. Allerdings liegt die Hinterwand des Herzens dem Zwerchfell auf, sodass die Schmerzen bei einer koronaren Stenose oft in den Bauch bzw. Rücken ausstrahlen, erklärte Dr. Tonn­ und appellierte an seine Kollegen: „Immer wenn jemand über Schmerzen im mittleren Oberbauch klagt, müssen Sie mental Tatütata machen!“

Bauchgefühl oder Herzenssache?
GastritisHinterwandinfarkt
  • Druckschmerz
  • keine Risikofaktoren
  • seit Tagen und Wochen
  • essensabhängiger Schmerz
  • kein Druckschmerz
  • Risikofaktoren: Alter, Familie, Diabetes, Raucher etc.
  • seit Stunden, plötzlich oder rezidivierend bei Belastung
  • begleitend Bradykardie, Rhythmusstörung oder Kaltschweißigkeit

Ebenfalls ein Warnhinweis: unspezifische, nicht exakt lokalisierbare Beschwerden zwischen den Schulterblättern mit gleichbleibender Intensität beim Bewegen. Auch Schmerzen im linken Arm bzw. in der linken Schulter sollten einer Bewegungsprüfung unterzogen werden. Sogar eine isoliert auftretende Übelkeit oder eine alleinige Dyspnoe schließen ein kardiales Geschehen nicht aus. Daneben gibt es Personen, die zwar über thorakale Schmerzen berichten, diese jedoch herunterspielen, z.B. weil die Symptome bereits nicht mehr zu spüren oder nur gering ausgeprägt sind, wenn der Arzt eintrifft. „Diese Patienten können am nächsten Tag tot sein!“, warnte Dr. Tonn. Um die Lebensgefahr einzuschätzen, helfen die Kriterien der instabilen Angina pectoris (AP). Dabei entscheidet die Klinik und nicht das EKG.

Präklinisch verbessert nur ASS i.v. die Überlebensrate

Trifft einer der folgenden Punkte zu, liegt eine instabile AP und somit ein akutes Koronarsyndrom vor:
  • Erstangina: Jeder mit neu aufgetretenen Herzschmerzen (min­destens 10–15 Minuten dauerhaft) muss ins Krankenhaus, auch wenn inzwischen keine Symptome mehr bestehen. Zur Evaluation eignet sich die Frage: Hatten Sie derartige Beschwerden schon einmal in Ihrem Leben? Lautet die Antwort nein, gilt es als Erst­angina.
  • Crescendo-Angina: definiert als Brustenge mit zunehmender Intensität, Dauer oder Häufigkeit. Darunter fällt auch eine stabile AP, die sich anders äußert als sonst.
  • Ruheangina (hat aus der Ruhe heraus begonnen)
  • keine Besserung auf Nitrospray
Der übersehene Myokardinfarkt und die unentdeckte instabile Angina pectoris führen Dr. Tonns Liste der häufigsten ärztlichen Fehler im Notdienst an. „Zehntausende Patienten sterben, weil wir den Infarkt nicht erkennen“, sagte der Kollege selbstkritisch und weist abschließend auf die wichtigste Akuttherapie hin: „ASS i.v. ist das einzige Medikament, das die Überlebensrate verbessert, wenn es präklinisch sofort verab­reicht wird.“