Multiple Sklerose MS an der Blut-Hirn-Schranke stoppen?
Bei Multipler Sklerose (MS) kommt es schon vor dem Auftreten der ersten ZNS-Läsionen zu einer Beschädigung der Blut-Hirn-Schranke. Das zeigten unter anderem bildgebende und pathologische Studien, schreibt eine Arbeitsgruppe um Dr. Bettina Zierfuss vom Centre Hospitalier der Universität Montreal.
Experimentelle Modelle machten deutlich, dass eine Neuroinflammation durch die Freisetzung proinflammatorischer Chemokine und vor allem durch die Hochregulation von Zelladhäsionsmolekülen (CAM) die Funktion der Barriere beeinträchtigt. Die Aktivierung führt zu einer Hypertrophie zerebraler Blutgefäße und reduziert die Oberflächen-Expression von Tight-Junction-Molekülen – auf diese Weise verliert die Barriere an Integrität. CAM und deren Interaktionspartner gelten daher als besonders attraktive Ziele für neue Therapieansätze.
Eine Reihe von Faktoren kann eine Dysfunktion der Blut-Hirn-Schranke begünstigen. Einer davon ist die natürliche Alterung, die u.a. durch verminderte Angiogenese, Abnahme von zerebralem Blutfluss und Gefäßdichte die Funktion der Schranke gefährdet. Auch verschiedene genetische Polymorphismen spielen Dr. Zierfuss und Kollegen zufolge eine Rolle.
Die Ernährung kann sich ebenfalls auf die Funktion der Blut-Hirn-Schranke auswirken. So verstärkt eine faserreiche Diät im Tierversuch die Produktion kurzkettiger Fettsäuren durch das Darmmikrobiom, welche zum Erhalt der Integrität der Barriere beitragen. Bei MS-Patienten fanden sich im Vergleich zu Gesunden erniedrigte Konzentrationen kurzkettiger Fettsäuren im Stuhl, eine erhöhte Durchlässigkeit der Darmbarriere und eine verminderte Anzahl von Bakterien im Darmmikrobiom, die kurzkettige Fettsäuren produzieren.
Bedeutende Barriere
Die Blut-Hirn-Schranke wird durch spezialisierte Endothelzellen gebildet und dient dazu, ein optimales Milieu für die neuronale Aktivität sicherzustellen: Sie steuert den Molekültransport ins und aus dem Gehirn, verhindert das Eindringen von Immunzellen ins ZNS und ist aktiv an der neurovaskulären Kopplung beteiligt, d.h. der Regulation des Blutflusses zur Unterstützung neuronaler Aktivität.
Störungen der Blut-Hirn-Schranke können neuronale Dysfunktion und Neurodegeneration sowie kognitive Verlangsamung zur Folge haben. Gründe dafür sind u.a. eine Dysregulation des zerebralen Eisenstoffwechsels und die Akkumulation von zytotoxischem Eisen sowie der Einstrom von Erythrozyten, Fibrinogen, Thrombin und Immunglobulinen ins ZNS.
Vitamin-D-Mangel und Rauchen sind Risikofaktoren
Erniedrigte Vitamin-D-Spiegel sind mit einem erhöhten Risiko für das Auftreten einer MS und der Krankheitsaktivität assoziiert. In einer placebokontrollierten klinischen Studie konnte die Zahl neuer Läsionen durch zusätzliche Gabe von Vitamin D verringert werden. Dies spreche dafür, dass Vitamin D auch für den Funktionserhalt der Blut-Hirn-Schranke wichtig sein könnte, schlussfolgern die Autoren. Als weitere Risikofaktoren gelten Infektionen mit dem Epstein-Barr-Virus, Hirntraumata in jungen Jahren, Rauchen sowie Störungen des zirkadianen Rhythmus.
Um den Zustand der Blut-Hirn-Schranke zu überprüfen, bieten sich beispielsweise Neurofilament-Leichtketten (NFL) im Blut als Biomarker an. Ihre Konzentration korreliert mit dem Schweregrad der MS, der Prognose und dem Auftreten von Schüben. Dass NFL vermehrt im Blut auftauchen, könnte durch eine erhöhte Permeabilität der Schranke zu erklären sein. Ähnliches gilt für das basische Myelinprotein.
Als krankheitsmodulierende Therapien bei MS werden Immunmodulatoren oder -suppressiva eingesetzt. Sie richten sich gegen die Aktivierung, Proliferation oder Migration von Immunzellen. Alle Wirkstoffe reduzieren die Bildung neuer Läsionen. Dies beruht auf direkten oder indirekten positiven Effekten an der Blut-Hirn-Schranke. Natalizumab etwa hemmt die transendotheliale Migration von Immunzellen direkt.
Interferon-beta verbessert die Integrität der Schranke
Glukokortikoide können als lipophile Substanzen gut ins ZNS penetrieren und stärken die Blut-Hirn-Schranke durch die Hochregulation von Tight Junctions und die Downregulation von CAM. Ein Langzeiteinsatz verbietet sich jedoch wegen des Nebenwirkungspotenzials. Auch Interferon-beta erhöht die Integrität der Schranke und verringert die transendotheliale Migration von Entzündungszellen. Tierexperimentelle Studien weisen darauf hin, dass eine intranasale Applikation noch effektiver sein könnte als die standardmäßige subkutane oder intramuskuläre Gabe.
Neue Behandlungen, die vermutlich auch die Blut-Hirn-Schranke stärken, sind u.a. BTK-Inhibitoren und die antiinflammatorisch wirkende kurzkettige Fettsäure Butyrat. Erforscht werden außerdem Therapien mithilfe von Inhibitoren der Histon-Deacetylasen, Sirtuin-1-Agonisten und Stammzelltransplantationen.
Quelle: Zierfuss B et al. Lancet Neurol 2024 ; 23: 95-109; DOI: 10.1016/S1474-4422(23)00377-0