Therapieentscheidung Partizipation kommt zu kurz
Wer den Begriff „Partizipation“ nachschlägt, findet von Soziologie über Pädagogik bis hin zur Politik viele Beispiele dafür, wie sich Menschen in Entscheidungsprozesse einbinden lassen. „Interessanterweise ist die Medizin nicht darunter“, kritisierte der Hamburger Diabetologe Dr. Jens Kröger. Dabei wünscht sich die Mehrheit (55 %) der über 14.000 befragten Patienten einer deutschlandweiten Studie von ihrem Behandlungsteam einen partizipativen Umgang. Bei 500 Ärzten einer weiteren Umfrage fällt die Zustimmung zur partizipativen Entscheidungsfindung mit 75 % sogar noch höher aus – zumindest theoretisch.
Fragt man diese nämlich, ob sie die Vor- und Nachteile verschiedener Behandlungen erklären, Therapiealternativen vorschlagen, die Vorstellungen der Patienten einbeziehen und zum Nachfragen ermuntern, antwortet die große Mehrheit mit „Ja“. Stellt man dieselben Fragen den Patienten, ergibt sich ein anderes Bild. „Erkrankte fühlen sich deutlich weniger informiert und ernst genommen als die Behandelnden glauben“, fasste Dr. Kröger die Erkenntnisse zusammen.
Es hapert also an einer verständlichen Kommunikation, etwa aufgrund großer Wissenslücken oder der (empfundenen) Machtungleichheit zwischen Arzt und Patient. Weitere Barrieren sind Zeitdruck in den Praxen, aber auch die Überzeugung, dass manche Menschen nicht für partizipative Entscheidungen geeignet sind. Dabei müssten beide Seiten erst einmal lernen, mit diesem Konzept umzugehen, betonte Dr. Kröger. „Das ist aus meiner Sicht kein Selbstläufer.“
Als gewaltigen Fortschritt bezeichnete der Diabetologe daher die Anfang 2021 vorgestellte Nationale VersorgungsLeitlinie zum Typ-2-Diabetes. Diese sieht unter anderem vor, dass übergeordnete und diabetesbezogene Lebensziele gemeinsam besprochen, vereinbart und priorisiert werden sollen. Hierzu gehören beispielsweise Infoblätter, die auch zur Vorbereitung des Arztbesuchs genutzt werden können. „Wir müssen unseren Patienten sagen: Ihr habt die Chance, mitzuwirken. Nehmt sie wahr“, ermutigte Dr. Kröger.
Negative Stereotype und Selbstwahrnehmung
Aktuelle Kampagnen sorgen für Aufmerksamkeit
Zur partizipativen Entscheidungsfindung gehört für ihn außerdem, dass die Betroffenen sich untereinander austauschen und ihre Wünsche und Forderungen gegenüber der Politik äußern. Während Menschen mit Typ-1-Diabetes online bereits sehr gut vernetzt sind, steht die öffentliche Teilhabe von Personen mit Typ-2-Diabetes erst am Anfang. Hoffnung setzt Dr. Kröger auf die Initiative „Deine Diabetes-Stimme“ mit ihrer aktuellen Kampagne #SagEsLaut und das Panel DiaLink als neue Formate auf dem Weg zu mehr Sichtbarkeit von Menschen mit Typ-2-Diabetes und ihren Bedürfnissen.Kongressbericht: Jahrestagung der AG Diabetes & Psychologie 2021