DGHO 2022 Prof. Dr. med. Matthias Preusser über die Versorgung von Geflüchteten, Diversität in der Medizin und Erfahrungen mit der Sterbehilfe
Herr Professor Preusser, warum findet die diesjährige Jahrestagung wieder in Präsenz statt und warum wird auf ein hybrides Format verzichtet?
Prof. Dr. Matthias Preusser: Die Jahrestagung fand vor der COVID-19-Pandemie immer in Präsenz statt und das hybride Format war sozusagen ein Notprogramm, welches prinzipiell auch sehr gut funktioniert hat. Die Pandemie ist zwar noch nicht vorbei, aber momentan doch halbwegs unter Kontrolle. Wir wollen daher die Jahrestagung auch wieder in Präsenz abhalten, weil der wissenschaftliche Austausch sehr von der persönlichen Interaktion lebt. Die neuen Daten zur Diagnostik und Therapie von hämatologischen und onkologischen Erkrankungen wollen und müssen miteinander besprochen werden und gemeinsame Forschungsprojekte kann man besser angehen, wenn man sich im persönlichen Gespräch austauscht.
Was sind besondere Highlights der Veranstaltung?
Prof. Preusser: Die Jahrestagung bietet ein breites Themenspektrum, das die ganze Breite der Hämatologie und Medizinischen Onkologie abdeckt. Besprochen werden sowohl seltene als auch häufige Tumorarten, als auch bösartige und gutartige Veränderungen und verschiedene moderne Therapieansätze, sodass es an dieser Stelle schwerfällt, bestimmte Highlights zu betonen. Was ich aber mit Sicherheit sagen kann: es wird für jede und jeden etwas dabei sein.
Ich persönlich freue mich besonders über Vorträge zu neuen Therapieformen der Präzisionsmedizin. Speziell sind hier die Immuntherapien, die CAR-T-Zell-Therapien und Antikörper-Wirkstoff-Konjugate zu nennen. Daneben wird es auch Sessions geben, die auf gesundheits- und gesellschaftspolitischer Ebene wichtig sind.
Wir konnten zudem einige internationale hochrangige Expert:innen gewinnen, die Keynote-Vorträge halten werden. Hervorheben möchte ich hier Prof. Dr. Andrés Cervantes, den designierten Präsidenten der European Society for Medical Oncology ESMO.
Ein Programmpunkt zu den gesellschaftspolitischen Herausforderungen ist zum Beispiel die Session „Close the care gap – das Motto des Weltkrebstages aus Sicht der Diversitätsmedizin“. Welche Inhalte werden in diesem Symposium behandelt und was sind generell wichtige Aspekte von Diversität in der Medizin?
Prof. Preusser: Im Hinblick auf Diversität in der Medizin sind zum einen die Geschlechterunterschiede zu nennen. Männer und Frauen haben ein unterschiedliches Risiko für verschiedene Krebserkrankungen und könnten darüber hinaus unterschiedlich auf manche Therapien ansprechen. Es könnte also sein, dass Männer und Frauen zum Beispiel unterschiedliche Dosierungen der jeweiligen Medikamente benötigen. Hier sind noch viele Fragen offen, die im Symposium adressiert werden sollen.
Ein weiteres Thema im Hinblick auf die Diversität sind soziale Unterschiede. Hier stellt sich unter anderem die Frage, wie wir es schaffen, allen Menschen unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Bildung, Geschlechtsidentität, sozio-ökonomischem Status und weiteren Faktoren einen gleichwertigen Zugang zu Diagnostik und Therapie zu bieten. Gleiches gilt für den Einschluss in klinische Studien, der für alle Patient:innen gleichermaßen möglich sein sollte.
In weiteren Sessions der Jahrestagung wird die Diversität ebenfalls aufgegriffen: Themen sind zum Beispiel die Kommunikation mit Patient:innen mit Migrationshintergrund und die Karriereentwicklung von Frauen in der Hämatologie und Onkologie.
Sie haben die Kommunikation mit Migrant:innen genannt. Zurzeit leben viele Geflüchtete aus der Ukraine in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Was sind die Herausforderungen, die sich im Zuge einer optimalen hämatologischen und onkologischen Versorgung ergeben?
Prof. Preusser: Auf der Jahrestagung wird es eine Session geben, die die verschiedenen Blickwinkel aus Deutschland, der Schweiz und Österreich beleuchtet. Die Menschen aus der Ukraine – und natürlich auch Geflüchtete aus anderen Ländern – haben ganz spezielle Bedürfnisse und daraus entstehen entsprechende Herausforderungen, die berücksichtigt werden müssen. Diese umfassen unter anderem die Sprachbarriere, das Trauma, das durch die Flucht entstanden ist und die Angst um Angehörige, die sich noch in der Ukraine oder in anderen Ländern befinden. Es braucht also entsprechende Rahmenbedingungen, um die Betroffenen gut versorgen zu können: unter anderem ein Dolmetschsystem, eine psychosoziale Betreuung, den Zugang zu Versicherungsleistungen und eine angemessene Unterbringung.
Auch hinsichtlich der medizinischen Versorgung müssen wir neue Herausforderungen bewältigen: So gibt es Krankheiten, die in der Ukraine häufiger auftreten als hierzulande. Außerdem besitzen viele hämatologische und onkologische Patient:innen keine medizinischen Unterlagen mehr, die Auskunft darüber geben, um was für eine Blutkrebserkrankung oder um was für einen soliden Tumor es sich genau handelt, in welchem Stadium sich die Krebserkrankung befindet und welche Therapien die Betroffenen jeweils bereits erhalten haben.
Daher brauchen wir dringend weitere Mitarbeitende, damit eine gute Versorgung von Geflüchteten gewährleistet werden kann. Generell war die Personalsituation in der Hämatologie und Onkologie schon angespannt, denn pro Erkranktem bleiben uns leider oft nur wenige Minuten – das würde sich bei einem signifikanten Zustrom von erkrankten Personen natürlich noch verschärfen. Darauf müssen wir uns unbedingt einstellen und entsprechend planen.
Was sind aktuelle Aspekte in Bezug auf die Sterbehilfe?
Prof. Preusser: Für die Sterbehilfe gibt es in den verschiedenen Ländern unterschiedliche Erfahrungen und Entwicklungen – ebenfalls ein Thema, das im Rahmen des diesjährigen Kongresses ausführlich besprochen wird. In Österreich gibt es seit Januar 2022 eine neue Gesetzeslage, welche die assistierte Selbsttötung unter bestimmten Umständen erlaubt, was nicht nur, aber auch für die Hämatologie und Onkologie relevant ist. Wir befassen uns aktuell intensiv mit der optimalen Umsetzung dieser neuen Möglichkeit. Ich bin sehr gespannt, welche Erfahrungen die Kolleg:innen in der Schweiz, wo es dieses Angebot schon länger gibt, und in Deutschland, wo sich der Deutsche Bundestag nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts (Februar 2020) erneut mit dem Thema auseinandersetzen wird, hier gemacht haben.
Interview: Dr. Miriam Sonnet