Diversität in der Medizin „Menschen sind nunmal vielfältig“
Was versteht man unter dem Begriff „Diversitätsmedizin“?
Prof. Dr. Marie von Lilienfeld-Toal: Den Begriff der Diversitätsmedizin haben wir quasi neu erfunden und wir wissen zurzeit noch nicht, ob es wirklich dabei bleiben wird. In meinen Augen ist die beste Begrifflichkeit die „kontextbezogene Medizin“. Es geht im Prinzip darum, in der medizinischen Forschung sowie bei Diagnostik und Therapie so viele individuelle und medizinisch relevante Faktoren wie möglich zu berücksichtigen, zum Beispiel das biologische Geschlecht, Alter oder den sozioökonomischen Status. Es können aber unter anderem auch Geschlechtsidentität, sexuelle Orientierung, kultureller Hintergrund oder körperliche Beeinträchtigungen eine Rolle spielen. Das ist aber vom Kontext abhängig – je nach Gegebenheit können Faktoren wichtig sein oder eben nicht. Dies wahrzunehmen und die verschiedenen Einflüsse zu berücksichtigen, halten wir für essenziell.
Letztendlich ist es das Ziel, die bestmögliche Therapie zu verabreichen, das heißt, den individuellen Menschen in diesem Kontext personalisiert zu behandeln. Wir müssen davon wegkommen, allen Patient:innen die gleiche medizinische Behandlung anzubieten.
Was muss bei der Analyse dieser Faktoren beachtet werden?
Prof. von Lilienfeld-Toal: Man darf die einzelnen Faktoren nicht „nebeneinander“ untersuchen, sondern man muss vielmehr deren Interaktionen untereinander berücksichtigen. In der Soziologie gibt es das Konzept der Intersektionalität, das das Zusammenwirken verschiedener Diskriminierungserfahrungen beschreibt. Hier zeigt sich, dass das gleichzeitige Vorhandensein verschiedener benachteiligender Faktoren ein anderes Ergebnis bedingt, als wenn nur ein Faktor untersucht wird. Das Phänomen kommt aus dem Schwarzen Feminismus, der besagt, dass Schwarze Frauen in den USA andere Erfahrungen machen als weiße Frauen oder Schwarze Männer.
Es gilt, diesen Gedankengang, dass die individuellen Faktoren miteinander in Beziehung stehen, in die Medizin zu übertragen. Ziel sollte es sein, nicht bidirektional zu denken – ist ein Faktor vorhanden oder nicht –, sondern deren Interaktionen untereinander genauer anzuschauen.
Wird die Interaktion der verschiedenen Faktoren heute in der Medizin bereits berücksichtigt?
Prof. von Lilienfeld-Toal: Studien ergaben, dass Armut zur Entwicklung von Krebs führt – aber dieses Phänomen unterscheidet sich zwischen den Geschlechtern, denn Männer sind anfälliger für die negativen Folgen von Armut als Frauen.
In der Krebstherapie wird langsam verstanden, dass Medikamente je nach biologischem Geschlecht unterschiedlich wirken. In einer aktuellen Studie untersuchten die Autor:innen eine Gruppe von Frauen vor und nach der Menopause und fanden heraus, dass sich die Effizienz einer Therapie je nach Alter unterscheidet. Es spielt also eine Rolle, ob man eine jüngere oder eine ältere Frau behandelt.
Welche Folgen hat es, wenn Faktoren der Diversitätsmedizin bei Diagnostik und Therapie nicht genug Beachtung finden?
Prof. von Lilienfeld-Toal: Es besteht die Gefahr der Fehlversorgung in alle Richtungen: zu viel Therapie, zu wenig oder gar die falsche. Schon länger weiß man, dass Frauen mehr Nebenwirkungen unter einer Krebsbehandlung entwickeln als Männer. In einer eigenen Analyse stellen wir beispielsweise fest, dass Frauen doppelt so häufig eine opioidpflichtige Mukositis erleiden. Eine Erklärung dafür könnte sein, dass die Dosierungen vieler Krebstherapien kleine, dünne Menschen benachteiligen. Und Frauen sind meistens nunmal kleiner und dünner als Männer. Das heißt, sie bekommen die Medikamente in einer vielfach höheren Konzentration als es eigentlich erforderlich wäre. Diese Hypothese konnten wir letztendlich aber nicht beweisen, weil wir die Daten retrospektiv betrachtet und das Körpergewicht nicht erhoben hatten.
Was sind erste Schritte, um die Diversitätsmedizin allgemein greifbarer zu machen?
Prof. von Lilienfeld-Toal: In der Literatur gibt es sehr viele Studien aus den USA zur Rolle der Diversitätsfaktoren in der Medizin, insbesondere in der Onkologie. Die häufigsten, die genannt und die auch in klinischen Studien abgefragt werden, sind Geschlecht, sozioökonomischer Status bzw. „class“ sowie „race“ und „ethnicity“.
Wir in Deutschland müssen uns zunächst die Begrifflichkeiten anschauen und entscheiden, ob diese passen oder ob wir neue finden müssen. „Race“ und „ethnicity“ sind Beispiele, die man nicht eins zu eins ins Deutsche übertragen kann. Es handelt sich hierbei um ein US-amerikanisches Konzept und um ein soziales Konstrukt, das sich hierzulande nicht anwenden lässt. Das kann schnell zu Missverständnissen führen, denn wir tun uns teilweise schwer damit, unbewusst oder aus Versehen „race“ nicht doch mit „Rasse“ zu übersetzen. Letzteres ist aber nicht gemeint, auch in den USA nicht. Denn man muss ganz klar betonen, dass es erwiesenermaßen keine genetische Definition von Menschenpopulationen gibt. Das bedeutet, das komplette biologische Konstrukt, das möglicherweise hinter dem Begriff „Rasse“ steckt, ist als solches nicht haltbar.
Andererseits existieren natürlich Unterschiede, die Menschen mit sich bringen und die berücksichtigt werden müssen. Perspektivisch wollen wir verstehen, welche Faktoren in Europa eine Rolle spielen.
Wo wird die Diversitätsmedizin schon jetzt angewandt?
Prof. von Lilienfeld-Toal: Ein Beispiel ist die Neutropenie. In der WHO-Klassifikation für myelodysplastische Syndrome wurde sie definiert ab < 1.800/µl neutrophiler Granulozyten. Es gibt nun aber auch die Entität der benignen ethnischen Neutropenie. Diese beruht auf der Beobachtung, dass Schwarze Menschen mit Abstammung aus Subsahara-Afrika gemäß WHO-Definition häufig eine Neutropenie ohne Krankheitswert aufweisen. Hier könnte man argumentieren, dass „race“, Ethnizität oder geografische Region doch irgendwie eine Rolle spielen.
Bereits vor zehn Jahren fanden Forschende aber heraus, was wirklich dahintersteckt: nämlich eine minore Blutgruppenkonstellation, der sogenannte Duffy-Null-Phänotyp. Wenn dieser vorliegt, korreliert das mit einer niedrigeren Neutrophilenzahl, mit einem unteren Normwert von rund 1.000. Den Duffy-Null-Phänotyp gibt es weltweit überall, er tritt in Subsahara-Afrika aber sehr häufig auf. Die Autor:innen kamen zu dem Schluss, dass dies mit der „race“ nichts zu tun hat. Das bedeutet auch, dass wir den Begriff der benignen ethnischen Neutropenie abschaffen sollten, weil dieser so einfach nicht stimmt. Vielmehr braucht es für diese Blutgruppe andere Referenzwerte, weil es sonst unnötige Nachuntersuchungen und Therapien nach sich zieht. Eine Duffy-Null-Neutrophilengrenze wird gerade auch für die Neufassung der ICD vorgeschlagen.
Warum werden bestimmte Personengruppen in klinischen Studien vernachlässigt?
Prof. von Lilienfeld-Toal: In der Naturwissenschaft sind wir darauf geprimt, dass wir möglichst verlässlich und reproduzierbar Experimente durchführen. Das heißt, es besteht ein Setup, in dem wir irgendetwas verändern möchten – in der klinischen Forschung beispielsweise ein neues Medikament. Verlässliche Ergebnisse erhält man dann, wenn man eben nur eine Sache verändert und die Patient:innengruppe möglichst homogen ist. Möchte man jetzt zum Beispiel ein weiteres Medikament mit den vorherigen vergleichen, stellt das in diesem Setting ebenfalls meist kein Problem dar. Es ist daher sehr verständlich, dass man sich in der medizinischen Forschung auf eine Gruppe – häufig jung und männlich – fokussiert hat, bei der Studien gut funktionieren. Das Problem: Die Mehrheit der Bevölkerung ist aber eben nicht jung und männlich.
Was muss die zukünftige Forschung berücksichtigen, um der Diversitätsmedizin gerechter zu werden als bisher?
Prof. von Lilienfeld-Toal: Zunächst müssen wir die Begrifflichkeiten klären und solche finden, die in unsere Gesellschaft passen. Einige Dinge haben wir bereits gelernt, wie eben die Existenz des Duffy-Null-Phänotyps, aber es gibt natürlich noch viel mehr, was wir erforschen müssen. Einige Faktoren müssen lokal bzw. regional geklärt werden. Ein Beispiel: Für die Wirksamkeit von Immuntherapien spielen Darmbakterien eine bedeutsame Rolle. Das Mikrobiom ist aber lokal, begründet dadurch, dass die Menschen in verschiedenen Teilen der Welt unterschiedlich essen.
Und: Die bisherigen Studien, die sich mit verschiedenen Diversitätsfaktoren beschäftigen, sind meist retrospektiver Natur. Zurzeit werden prospektive Studien geplant. Daher stellt es sich im Moment noch als schwierig dar, Faktoren der Diversitätsmedizin in die Leitlinien aufzunehmen. Für zukünftige Studien gilt es, die verschiedenen Gesellschaftsgruppen abzubilden.
Gibt es weitere Punkte, bei denen Sie Änderungsbedarf sehen?
Prof. von Lilienfeld-Toal: Gerade in Bezug auf die Diversitätsmedizin müssen wir akzeptieren, dass es nur schrittweise und langsam vorangeht. Insbesondere in der Onkologie ist das oft ein Problem, weil es hier häufig schnell gehen muss und neue Therapien zügig entwickelt werden sollen. Ich bin aber der Auffassung, dass es Sinn ergibt, einmal innezuhalten und zu überlegen, wie wir diejenigen mitnehmen, die zurzeit nicht in Studien repräsentiert sind. Wir haben eine enorme Menge an Selbstverständlichkeiten, die eigentlich gar nicht passen. Und das sollte man hinterfragen. Natürlich ist das unbequem und auch nicht nobelpreisverdächtig – und mitunter teuer.
Ich verstehe das Argument, dass die Forschung dann langsamer oder ausgebremst wird. Allerdings erhalten sehr viele Patient:innengruppen zurzeit keine adäquate Therapie. Und hier sollte man sich fragen: Warum hat die kleine Population, für die Studien und Medikamente derzeit wunderbar passen, immer noch ein Recht auf Fortschritt, wenn ganz viele andere Menschen keine passende Medizin bekommen? Wie kann man medizinische Forschung machen, ohne die Diversität zu berücksichtigen? Denn Menschen sind nunmal vielfältig. Ich vergleiche das gerne mit einem Orchester: Sie würden doch nie auf die Idee kommen, ein Orchester nur aus Querflöten bestehen zu lassen.
Können Ärzt:innen schon heute konkrete Dinge umsetzen?
Prof. von Lilienfeld-Toal: Wir sollten sehr viel mehr auf Selbstbezeichnungen achten. Beispielsweise spielt es eine Rolle, ob man das biologische oder das soziale Geschlecht oder die Geschlechteridentität betrachtet. Das alles unterscheidet sich wiederum von der sexuellen Orientierung.
Als betreuende Ärzt:innen sollten wir unter anderem diese Faktoren nicht von vornherein annehmen, sondern die Person, die uns gegenübersitzt, danach fragen: „Als was identifizieren Sie sich?“ Das gelingt sicherlich für viele soziodemografische Daten. Wichtig ist es also, die Menschen mit einzubeziehen.
An der Ruhr-Universität etablieren Sie zurzeit das erste deutsche Institut für Diversitätsmedizin. Was sind die Ziele und Pläne?
Prof. von Lilienfeld-Toal: Wir wollen die kontextbezogene Medizin definieren, systematisieren und besser verstehen. Und: Wir brauchen ein Bewusstsein für die Begrenztheit unserer Evidenz. Bei neuen Leitlinien, die auf Evidenz beruhen, sollte man betonen, dass die Empfehlungen nur für bestimmte Gruppen gelten.
Was muss sich auf gesellschaftlicher und politischer Ebene ändern, um Diversitätsmedizin mehr in den Fokus zu rücken?
Prof. von Lilienfeld-Toal: Generell erlebe ich in Politik und Gesellschaft eine große Offenheit gegenüber der Diversitätsmedizin. Allerdings braucht es eine gewisse Geduld, weil es eine schnelle Lösung für die angesprochenen Probleme nicht geben wird. Gleichzeitig erfordert es Neugier und Offenheit.
Quelle: Interview