Innere Ruhe und Balance Raus aus der pathologischen Erschöpfung

Autor: Alexandra Simbrich

Erschöpfung kann ein Begleitsymptom onkologischer, neurologischer oder psychiatrischer Erkrankungen und deren Therapien sein.(Agenturfoto) Erschöpfung kann ein Begleitsymptom onkologischer, neurologischer oder psychiatrischer Erkrankungen und deren Therapien sein.(Agenturfoto) © fizkes – stock.adobe.com

Vieles kann in eine krankhafte Erschöpfung führen. Wird sie früh erkannt und behandelt, lassen sich langfristige Folgen für die Gesundheit verhindern. Neben Psychotherapie und Medikamenten ist vor allem das Achtsamkeitstraining eine wichtige Therapiesäule.

Im Rahmen von COVID-19 ist sie zunehmend ins Licht gerückt, doch auch vor der Pandemie war die Erschöpfung ein häufiges Beschwerdebild: In Deutschland fühlen sich zwischen 20 und 60 % der Bevölkerung und über 90 % der Krankenhausärzte regelmäßig erschöpft, berichtet Prof. Dr. Matthias Lemke, Psychiater und Ärztlicher Direktor der Heinrich Sengelmann Kliniken.

Erschöpfung, auch als übermäßige Ermüdbarkeit oder Fatigue bezeichnet, kann ein Begleitsymptom onkologischer, neurologischer oder psychiatrischer Erkrankungen und deren Therapien sein. Mittlerweile handelt es sich häufig jedoch um eine eigenständige Störung, die oft im Rahmen von Überlastung und Stresserkrankungen auftritt.

Eine akute Erschöpfung schützt den Körper vor Überforderung und bessert sich durch Erholung vollständig. Pathologisch wird Erschöpfung dann, wenn die Müdigkeit von hoher Intensität, langer Dauer oder unverhältnismäßig zu vorangegangenen Aktivitäten ist und Schlaf oder Ruhepausen nicht zu einer Besserung führen. Zahlreiche Erschöpfungserkrankungen wie das chronische Müdigkeitssyndrom, die Neurasthenie oder das Burn-out-Syndrom, in deren Rahmen auch Erschöpfung diagnostiziert wird, lassen erkennen, dass die einzelnen Entitäten wissenschaftlich schwer voneinander abgrenzbar sind.

Ebenen des individuellen Stressmanagements

  • mental: Einordnung von beruflichen und sozialen Anforderungen, Persönlichkeitsfaktoren und den persönlichen Ressourcen.
  • instrumentell: Analyse der beruflichen und sozialen Umgebungsfaktoren als Stressoren und Änderung der individuellen psychosozialen Situation, zum Beispiel durch arbeitspsychologische Interventionen oder den Wechsel des Arbeitsplatzes.
  • regenerativ: Aufrechterhalten der Homöostase durch gesunde Ernährung, Bewegung, Sport, Achtsamkeitstraining, Entspannungsübungen und Pflege stärkender sozialer Strukturen.

Allen gemeinsam sind die affektiven, kognitiven und physischen Aspekte:

affektiv:

  • Verlust oder Minderung von Motivation, Interessen und Antrieb
  • Angst
  • Resignation
  • Gereiztheit und Anspannung

kognitiv:

  • Konzentrationsstörungen
  • Ablenkbarkeit
  • Reduktion der Aufmerksamkeit
  • verringertes Reaktionsvermögen

physisch:

  • Reduktion der Leistungsfähigkeit
  • Schlafstörungen
  • ungewohntes Schlafbedürfnis
  • Kraft- und Energielosigkeit

Mit unterschiedlichen biologischen, psychologischen und psychosozialen sowie individuellen und institutionellen Faktoren liegen der Erschöpfung als eigenständiger Erkrankung vielfältige Ursachen zugrunde, betont Prof. Lemke. Auf physischer und metakognitiver Ebene entsteht das Beschwerdebild durch ein Ungleichgewicht von Anspannung und Entspannung, häufig infolge von Stress.

Hierbei spielt die Dauer und Intensität der Stressreaktion eine Rolle: Während akuter Stress den Sympathikus im Rahmen des Fight-or-flight-Reflexes positiv aktiviert, stören chronische Belastungen das innere und äußere Gleichgewicht, die Homöostase.

Mit Selbstwirksamkeit und -fürsorge zur Balance finden

Schleichend kommt es zu Leitsymptomen wie innerer Unruhe, ängstlicher Gespanntheit, rascher Erschöpfbarkeit und vegetativen Beschwerden wie Schlafstörungen und Schwindel. Die negativen Auswirkungen chronischer Belastung sind dabei umso größer, je geringer die Resilienz ausgeprägt ist. Langfristig überwiegt der Sympathikus gegenüber dem Parasympathikus und es kommt zu allostatischen Anpassungsreaktionen des Körpers an sich beständig verändernde physiologische und biologische Sollwerte, erläutert der Experte.

Hier setzen die Behandlungskonzepte an: Psychotherapeutische Maßnahmen wie die Stärkung von Selbstwirksamkeit und Selbstfürsorge zielen darauf ab, die Fähigkeiten der Betroffenen zur Stressbewältigung zu trainieren, um die Homöostase wiederherzustellen und zu erhalten. Daneben haben sich je nach Indikationsstellung ergänzende Maßnahmen wie Physiotherapie, Phytopharmaka (z.B. Johanniskraut, Lavendel, Baldrian) und Antidepressiva (­Citalopram, Duloxetin, Bupropion) bewährt.

Auch Bewegungsprogramme können helfen. Patienten mit chronischer Erschöpfung dürfen allerdings ihre Belastungsgrenze nicht überschreiten, warnt der Experte. Um dies zu vermeiden, helfen Strategien zum Energiemanagement wie das sogenannte Pacing. Dabei erfassen die Betroffenen ihre Schritte oder die Herzfrequenz und lernen, die eigene Belastung einzuschätzen.

Fällt physische Aktivität besonders schwer, eignet sich mitunter ein Training im virtuellen Gelände mittels einer Virtual-Reality-Brille. Mit ihr lässt sich ein Parcours ohne größere körperliche Anstrengung bewältigen. Zugleich steigert die spielerische Komponente die Motivation der Patienten. Als weitere Maßnahme nennt Prof. Lemke das individuelle Stressmanagement, das Interventionen auf unterschiedlichen Ebenen erfasst (s. ­Kasten).

Achtsamkeitstraining und Salutogenese stärken Resilienz

Besondere Bedeutung kommt dem Achtsamkeitstraining zu. Regelmäßig durchgeführt kann es die Betroffenen auf dem Weg aus der Erschöpfung begleiten. Mittlerweile ist die Förderung der Resilienz durch die Übungen gut untersucht.

Ebenfalls resilienzfördernd und damit vorbeugend gegen Erschöpfung ist das Konzept der Saluto­genese. Dabei lernt der Mensch, Aktivität und Ruhe, An- und Entspannung sowie Alleinsein und Zusammensein mit Anderen auszubalancieren und flexibel mit Anforderungen umzugehen.

Quelle: Lemke MR. Hamburger Ärzteblatt 2023; 77: 12-17