Rote Beine: Eine Zellulitis lässt sich nicht immer zweifelsfrei erkennen
Für eine Zellulitis spricht die einseitige Manifestation der Rötung. Allerdings muss man zunehmend mit beidseitigen Befunden rechnen, die sich als Komplikation von lymphatischen und anderen Beinödemen herausbilden. Das häufige Problem in der Praxis: Wärme, Schwellung und Druckschmerz sind symptomatisch gesehen kein Alleinstellungsmerkmal. Deshalb ist fast jede dritte Zellulitis-Diagnose falsch, schreiben George Edwards vom Nuffield Department of Primary Care Health Sciences, Oxford, und Kollegen.
In der Folge kommt es zu unnötigen Antibiotikaverordnungen und Krankenhausaufenthalten. Umgekehrt drohen bei einer unbehandelten Zellulitis schweren Komplikationen: ausgedehnte Nekrosen, disseminierte Infektion, septischer Schock und Tod. Differenzialdiagnostisch müssen zunächst bakterielle Infektionen von anderen Ursachen unterschieden werden. Hier beginnt das Dilemma: Für den Einsatz diagnostischer Hilfsmittel – vom Procalcitonin bis zum Score – fehlen bisher vergleichbare Studien zur Evidenz. Abstrich- und Blutkulturen sind in der Regel negativ und Biopsien helfen nur beim Verdacht auf spezifische Erreger (zum Beispiel nach Kontakt mit Tieren oder potenziell kontaminiertem Wasser).
Die Zellulitis bleibt also eine hauptsächlich klinische Diagnose. Dabei erhöhen fünf Faktoren die Wahrscheinlichkeit, dass das entzündete Unterhautgewebe am „roten Bein“ schuld ist:
- Vorangegangene Zellulitis
- Lymphödem oder chronisches Beinödem
- Hauterkrankungen, die mit einer Exkoriation einhergehen
- Fußpilz oder andere erkennbare Eintrittspforten
- Body-Mass-Index > 30 kg/m2
Als klassische Symptome gelten ein akut aufgetretenes Erythem sowie Schmerzen, Überwärmung, Schwellung und Druckdolenz. Zusätzlich entwickelt sich eventuell eine aufsteigende Lymphangitis und eine druckschmerzhafte Lymphangiopathie in der Leistengegend. Das entzündete Areal kann scharf oder diffus begrenzt sein.
Ein einseitiger Befund macht die Diagnose „echte Zellulitis“ wahrscheinlicher. Ist das Bein allerdings nicht wärmer als die gesunde Gegenseite spricht es gegen diese. Seltener kommt es zu einer bilateralen Zellulitis im Rahmen chronischer Bein- und Lymphödeme. Auch in diesem Fall deutet das Fehlen der Überwärmung auf eine alternative Ursache hin. So kann beispielsweise die akute nekrotisierende Weichteilinfektion einer unilateralen schweren Zellulitis ähnlich sehen. Auffällig sind bei dieser Diagnose heftige Schmerzen, die in keinem Verhältnis zum Hautbefund zu stehen scheinen. Das begleitende Ödem ist hart wie Holz und auf der Haut imponieren Blasen unterschiedlicher Größe.
Mitunter kommt die Entzündung von den Knochen
Auch subakute oder chronische Infektionen wie die Osteomyelitis kommen als Differenzialdiagnosen für das rote Bein in Betracht – vor allem bei Diabetikern. Eine septische Arthritis beziehungsweise Bursitis manifestiert sich im Gelenk oder in dessen Nähe und ist mit einer stark eingeschränkten Beweglichkeit verbunden. Mit einer Infektion durch eher ungewöhnliche Erreger muss man beispielsweise nach Tierkontakt oder bei Bissverletzungen rechnen.
Zu den nicht-infektiösen Differenzialdiagnosen der Zellulitis zählt unter anderem die tiefe Beinvenenthrombose. Bei dieser sind die systemischen und lokalen Entzündungszeichen allerdings geringer ausgeprägt. Einem Kompartmentsyndrom geht dagegen ein Trauma voraus, typisch sind in diesem Fall zusätzlich heftige Schmerzen. Reaktive Hyperämie und nekrosebedingte Entzündungen können außerdem bei arteriellen Stenosen Anlass für Verwechslungen geben. Sind von der Inflammation Gelenke betroffen und ist deren Beweglichkeit stark eingeschränkt, können auch Gicht oder Chondrokalzinose dahinter stecken.
Eine beidseitige Zellulitis kann durch infizierte Ulzera (diabetisch oder vaskulär) vorgetäuscht werden. Die häufigsten Fehldiagnosen sind aber Varikose und Stauungsekzem, wobei sich beide trotzdem häufiger einseitig manifestieren und mit Juckreiz und typischen Hautveränderungen verbunden sind.
Auch in Zweifelsfällen ein Antibiotikum verordnen
Schließlich sollte man bei multifokalen oder ulzerierenden Läsionen an systemische Erkrankungen wie Vaskulitis, Erythema multiforme und Pyoderma gangraenosum denken. Wegen des hohen Komplikationsrisikos der Zellulitis empfehlen die Autoren, auch in Zweifelsfällen ein Antibiotikum zu verordnen. Bei Zeichen einer systemischen Toxizität oder schlecht kontrollierten Begleiterkrankungen ist eine stationäre Therapie angezeigt. Im Anfangsstadium einer nekrotisierenden Fasziitis fehlen oft charakteristische Befunde, deshalb sollten diese Patienten schon auf Verdacht zur Abklärung notfallmäßig ins Krankenhaus eingewiesen werden.
Quelle: Edwards G et al. BMJ 2020; 368: m54; DOI: 10.1136/bmj.m54