Leichenschau „Sie sind keine Ermittler“
Das Thema Leichenschau weckt bei vielen Unsicherheiten: Wer ist dafür zuständig? Wie schnell muss sie erfolgen? Was genau gehört dazu? Und nicht zuletzt die große Frage: natürlicher, ungeklärter oder nicht-natürlicher Tod? Dr. Carsten Köber, Allgemein- und Notfallmediziner aus Bad Mergentheim, brachte Licht ins Dunkel.
Die Bestimmungen für eine Leichenschau finden sich in den Bestattungsgesetzen der Bundesländer, gleichen sich aber in weiten Teilen. Jede Ärztin und jeder Arzt in der Niederlassung ist auf Verlangen verpflichtet, die Schau duchzuführen, in Thüringen „jeder zur Berufsausübung Zugelassene“. In Krankenhäusern gilt die Pflicht zur Schau von dort verstorbenen Patientinnen und Patienten.
Stirbt aber jemand nach einer ärztlichen Maßnahme, muss der zuletzt Behandelnde keine definitive, sondern höchstens eine vorläufige Leichenschau durchführen. Das soll vor Schuldzuweisungen schützen. Auch für Notärztinnen und Notärzte genügt der vorläufige Schein, eine ausführliche Begutachtung bindet sie mit ihrem Rettungsmittel zu lange an den Ort des Geschehens.
Was die Frist bis zum Eintreffen angeht, heißt es in der Regel in den Gesetzen „unverzüglich“. „Das ist nicht mit „auf der Stelle“ gleichzusetzen, betonte Dr. Köber. Vielmehr gilt „ohne schuldhaftes Zögern“. Im Klartext heißt das: Wer sich mitten in einer Behandlung oder gar Operation befindet, rennt natürlich nicht weg, sondern bringt zu Ende, was er begonnen hat. Im Praxisalltag lässt sich die Leichenschau als Hausbesuch meist einigermaßen gut disponieren.
Etwas anders sieht es im KV-Bereitschaftsdienst aus: Kommt dort z. B. die Todesmeldung von einem unbekannten Patienten, sollte man zügig hinfahren, zumal der Tod nur von einer Ärztin oder einem Arzt attestiert werden darf und nicht von einer Pflegekraft in einem Heim. „Erst wenn Sie feststellen, er ist tot, ist er tot“, sagte der Kollege.
Die immer wieder kolportierte Zwei-Stunden-Regel, der zufolge erst nach zwei Stunden eine sichere Todesfeststellung gelingen soll, existiert laut Dr. Köber gar nicht. Livores als sichere Todeszeichen werden etwa nach 15–20 Minuten sichtbar, „unter Reanimation manchmal schon während der Wiederbelebung“.
Die Identifizierung einer (unbekannten) Leiche erfolgt in der Regel mittels Personalausweis oder Reisepass. Lassen sich die Dokumente nicht auffinden, darf man sich auch auf Zeugen verlassen und notiert „nach Angaben von Dritten“. „Sie müssen keine aufwendige Umfeldsuche starten“, betonte der Kollege. Nur bei starken Zweifeln an der Identität oder einer nicht möglichen Identifizierung – z.B. bei starker Verwesung oder entstellenden Verletzungen – muss die Polizei gerufen werden.
Die praktische Durchführung der Leichenschau
- Umfeld checken: leere Flaschen, Medikamentenblister (Abfall/Badezimmer nicht vergessen), Türen offen/verschlossen, Hinweise auf Fremdeinwirkung, evtl. Fotos machen, bevor man etwas verändert
- auch bei Hinweisen auf nicht-natürlichen Tod erst den Tod sicher feststellen, dann die Untersuchung abbrechen und die Polizei rufen
- Einblick in Krankenakten nehmen (falls vorhanden), mit Angehörigen über Vorgeschichte sprechen, ggf. mit der Hausärztin oder dem Hausarzt Kontakt aufnehmen (der letzte Behandelnde ist auskunftspflichtig!)
- Leichnam immer komplett entkleiden, drehen, Vorder- und Rückseite begutachten
- von Kopf bis Fuß abtasten/abklopfen, Mundhöhle, Lidinnenseiten, Gehörgänge, Nasenvestibuli inspizieren
- am Ende Penis/Scheide und After ansehen, spreizen und austasten
- bei Unsicherheit oder fehlender Praxis Checkliste nutzen (z. B. bit.ly/checkliste-leichenschau)
Checklisten helfen, den Todeszeitpunkt abzuschätzen
Der Zeitpunkt des Todes lässt sich nur sicher bestimmen, wenn er zweifelsfrei bezeugt werden kann, z. B. nach erfolgloser Reanimation oder durch Angehörige. Ansonsten wird der Zeitpunkt vermerkt, an dem der Tod festgestellt bzw. ein Toter aufgefunden wurde. Für eine grobe Abschätzung, z. B. auf Wunsch der Polizei, gibt es Checklisten im Internet. „Die dürfen aber niemals eine Grundlage für den Leichenschauschein sein“, mahnte Dr. Köber.
Neben den Livores ist der Rigor mortis ein weiteres wichtiges Todeszeichen. Die Starre setzt etwa nach 2–4 Stunden zunächst am Kiefergelenk ein, ihre volle Ausprägung erreicht sie nach 6–12 Stunden. Fäulnis, Tierfraß oder nicht mit dem Leben vereinbarende Verletzungen zählen auch zu den sicheren Zeichen, begegnen einem im Alltag aber eher selten.
Die Begriffe Art und Ursache werden häufig vermischt
Bleibt die Frage nach Todesursache und Todesart – zwei Begriffe, die oft vermischt werden. Lässt sich eine Todesursache nicht sicher ermitteln, kann dennoch ein natürlicher Tod vorliegen. Denn nur, weil man sie nicht eindeutig aufklären kann, rechtfertigt das nicht allein das Label „nicht-natürlicher Tod“, erklärte der Referent.
Die Todesursache bezeichnet die medizinische Klassifikation der Umstände, die zum Tode geführt haben. Sie wird durch die Zusammenschau objektivierbarer Daten (Arztbriefe, Medikationsplan etc.), der Angaben von Dritten und der selbst erhobenen Untersuchungsbefunde erstellt. Wenn kein Zeichen auf ein von außen beeinflussbares Geschehen vorhanden ist und zudem Hinweise für mindestens ein Grundleiden, das mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Tode führen kann, vorliegen, darf der natürliche Tod bescheinigt werden.
Eine Zuhörerin gab zu bedenken, dass letztlich eine Fremdeinwirkung durch die einfache Leichenschau nie sicher auszuschließen sei. Dem stimmte Dr. Köber zu, aber er betonte auch: „Sie sind keine Ermittler!“ Es sei nicht realistisch, bei jedem unbekannten Toten mit multiplen Vorerkrankungen in einem Pflegeheim die Polizei zu rufen.
Das Ziel der Leichenschau ist es, eine nosologische Kausalkette zu erstellen, um zur Todesursache zu gelangen: „A als Folge von B bei Grundkrankheit C.“ Bei Multimorbidität lässt sich das nicht immer so einfach oder gar nicht herleiten. Der Kollege riet, sich im Zweifel des ICD-Codes R96.0 zu bedienen: natürlicher Tod unbekannter Ursache. Nichtssagende Endzustände wie Herzversagen oder Herz-Kreislauf-Versagen sollten auf keinen Fall als Ursache genannt werden.
Als ungeklärt gelten Todesfälle, wenn es keine plausible Erklärung dafür gibt. Das heißt: Die Todesursache ist nicht bekannt, es lassen sich keine Hinweise für eine lebensbedrohliche Erkrankung finden, aber ebensowenig solche für einen nicht-natürlichen Tod. „Ungeklärt“ lautet der Befund auch, wenn die Leiche postmortal starke Veränderungen aufweist, die Auffindesituation Fragen aufwirft oder man selbst kurz zuvor an der Behandlung beteiligt war.
Zusammenhänge zwischen Grundleiden und Todesursache
Man unterscheidet vier Sterbenstypen als thanatologische Brücke zwischen einer Grunderkrankung und der Todesursache:
- linearer Sterbenstyp: Es handelt sich um eine organtypische Todesursache, sie und das Grundleiden hängen direkt in einem Organsystem zusammen. Beispiel: ein Kammerflimmern nach einem Infarkt auf dem Boden einer stenosierenden KHK.
- divergierender Sterbenstyp: Ein organspezifisches Grundleiden wirkt über Folgeschäden in verschiedenen anderen Organsystemen letal. Beispiel: ein Karzinom, das über Fernmetastasierung, Anämie und Kachexie todesursächlich wird.
- konvergierender Sterbenstyp: Mehrere Grunderkrankungen in verschiedenen Organsystemen führen über gemeinsame pathogenetische Endstrecken zum Tod. Beispiel: eine stenosierende KHK plus ein rezidivierend blutendes Ulkus, die in einem akuten Koronarsyndrom enden.
- komplexer Sterbenstyp: Mehrere Grunderkrankungen in verschiedenen Organsystemen bewirken mehrere organspezifische Folgeschäden, die gemeinsam todbringend sind. Beispiel: eine Herzinsuffizienz durch ischämische Kardiomyopathie aufgrund einer stenosierenden KHK plus eine Bronchopneumonie durch die Exazerbation einer COPD.
Totenschein als Grundlage für Versicherungszahlungen
Nicht-natürlich ist ein Tod, wenn Anzeichen auf Suizid oder Fremdeinwirkung vorliegen (z. B. sichtbare Einbruchspuren, durchwühlte Wohnung, Abschiedsbrief), aber auch, wenn eine mittelbare Unfallfolge naheliegt. Eine Lungenembolie nach frischer Schenkelhalsfraktur springt dabei eher ins Auge als die Erstickung im Krampfanfall bei einer Epilepsie, die durch einen Verkehrsunfall vor zehn Jahren ausgelöst wurde. „An solche Dinge sollte man denken, denn die Benennung auf dem Totenschein bildet die Grundlage für mögliche Zahlungen von Unfallversicherungen“, mahnte Dr. Köber.
Eine besondere Beurteilung ist bei Todesfällen nach oder unter ärztlicher Behandlung notwendig. Kunstfehler oder ein sonstiges Verschulden des Personals sollten ausgeschlossen bzw. ermittelt werden. Cave: Ein Exitus in tabula zählt nicht dazu, sondern gilt als schicksalhaft, betonte der Kollege. Mit der OP setzt sich quasi das Risiko der Grunderkrankung fort.
Quelle: 49. practica 2024