Unter dem Aluhut – wie unerwartete Unsicherheiten paranoides Denken fördern
Neurowissenschaftlich betrachtet ist die Entstehung von Verschwörungstheorien und paranoiden Gedanken durchaus nachvollziehbar. In Forscherkreisen ist es Konsens, dass die menschliche Psyche nur schwer mit Unsicherheiten umgehen kann. Das gilt besonders in Zeiten globaler Bedrohungen. „Das menschliche Gehirn ist eine Prognosemaschine, das die eigene Zukunft so gut es geht vorhersagen will“, schreiben Forscher um Erin J. Reed von der Yale School of Medicine in New Haven. Passiert etwas Unvorhergesehenes, versuchen Menschen, dem Geschehenen im Nachhinein einen Sinn zu geben und es so leichter handhabbar zu machen. Das kann paranoide Gedanken fördern.
Diese Hypothese haben die Yale-Forscher kürzlich in drei Experimenten überprüft. Studie 1 fand mit insgesamt 32 Personen statt, je zur Hälfte bestehend aus gesunden Kontrollen und Personen mit einer affektiven, schizophrenen oder schizoaffektiven Störung. Vor der eigentlichen Aufgabe beantworteten die Teilnehmer Fragebögen, wodurch elf von ihnen als wenig paranoid und 21 als stark paranoid ausgewiesen wurden.
Im anschließenden Experiment sollten beide Gruppen aus drei Kartenstapeln mit unterschiedlichem Wert wiederholt denjenigen auswählen, von dem sie vermuteten, dass er den größten Wert hat. Die Teilnehmer wurden gewarnt, dass sich die Zusammensetzung der Decks ändern könnte. Nach jeder Entscheidung wurde aufgelöst, ob sie richtig lagen.
Allein diese Ankündigung führte dazu, dass die als paranoid Klassifizierten ihre Spielstrategie permanent wechselten und sogar nach einem Gewinn nicht bei dem zuvor ausgewählten Kartenstapel blieben. Das liegt vermutlich daran, dass diese Teilnehmer viele solcher Manipulationen erwarteten, glauben die Wissenschaftler. Als sie die Decks dann tatsächlich veränderten, ohne dies anzukündigen, und sich in der Folge die Gewinnchancen verringerten, wechselten auch die wenig Paranoiden immer häufiger ihre Strategie. Sie schienen nicht mehr aus den Konsequenzen ihres Handelns zu lernen.
Diese Beobachtung konnten Reed und Kollegen in einer größeren Online-Kohorte replizieren. Wieder änderten Spieler, die als paranoid eingeschätzt worden waren, ihre Gewinnstrategie überproportional häufig – unabhängig davon, ob sie zuvor gewonnen oder verloren hatten.
Verhalten wohl keine Antwort auf soziale Bedrohungen
In einem dritten Experiment, dieses Mal ein Tierversuch, durchliefen Ratten ein ähnliches Lernprogramm wie die Probanden aus Studie 1 und 2, standen dabei jedoch unter dem Einfluss von Methamphetamin – einer Substanz, die bei Menschen eine Paranoia auslösen kann. Die Reaktionen der Nager glichen denen der als paranoid ausgewiesenen Menschen: Sie schienen einen Sieg als äußerst unsicher einzuschätzen und verließen sich mehr auf diese negative Erwartung als auf die zuvor gemachte Erfahrung eines erzielten Gewinns.
Auf Basis ihrer Studie schätzen die Autoren paranoides Denken und Verhalten weniger als eine Antwort auf soziale Bedrohungen ein. Denn: Die drei Experimente fanden allesamt in einem „sicheren“ Rahmen statt, ohne dass die Teilnehmer ernsthafte Gefahren fürchten mussten. Vielmehr glauben sie, dass einer Paranoia ein Lernmechanismus zugrunde liegt, der von unerwarteter Unsicherheit getriggert wird.
Quelle: Reed EJ et al. eLife 2020; 9: e56345; DOI: 10.7554/eLife.56345