Demenz und Familie „Viele trauen sich nicht, im Freundeskreis darüber zu reden“

Autor: Dr. Anja Braunwarth

Das KIDSDEM-Team (v.l.n.r.): Barbara Crombach, Dr. Ute Brüne-Cohrs, Jan Hildebrand, Jutta Meder, Petra Funke. Das KIDSDEM-Team (v.l.n.r.): Barbara Crombach, Dr. Ute Brüne-Cohrs, Jan Hildebrand, Jutta Meder, Petra Funke. © LWL/Dally

Die Hormone spielen verrückt und die Gefühle fahren Achterbahn: Jugendliche an der Schwelle zum Erwachsenwerden machen eine schwierige Zeit durch. Wenn in dieser Phase ein Elternteil an einer Demenz erkrankt, gerät die Welt meist ganz aus den Fugen. Das Projekt KIDSDEM bietet den Betroffenen Hilfestellung.

Etwa 30.000 bis 40.000 Menschen hierzulande erkranken im jüngeren Lebensalter an einer Demenz. In jeder dritten betroffenen Familie leben Kinder unter 18 Jahren. Die frühe demenzielle Erkrankung eines Elternteils stellt für die Heranwachsenden eine enorme Belastung dar: Sie erleben alle Symptome der Krankheit wie Vergesslichkeit, Angst, Unruhe oder auch Aggressivität hautnah, nehmen sie persönlich oder fühlen sich gar dafür schuldig. Ihre eigenen Bedürfnisse treten dabei oft in den Hintergrund. Diese Situation kann bei den Kindern und Jugendlichen die unterschiedlichsten Gefühle wie Angst, Schuld oder Wut auslösen. Viele schämen sich auch, nicht mehr in einer „normalen“ Familie zu leben.

All das ist eine große Bürde und führt zu einem stark erhöhten Risiko für dauerhafte psychische Störungen. In Bochum wurde daher für Betroffene das Projekt KIDSDEM ins Leben gerufen. Es richtet sich an Jugendliche und junge Erwachsene mit einem an Demenz erkrankten Elternteil, die in einem geschützten Rahmen Unterstützung finden. In einem wöchentlich stattfindenden Gruppenangebot können sie offen über ihre Gefühle und Gedanken sprechen und sich mit gleichaltrigen Betroffenen austauschen. Sie erhalten auch Hilfe dabei, individuelle Stressbewältigungskompetenzen zu entwickeln. Für die gesunden Elternteile gibt es ebenfalls Angebote, die ihnen dabei helfen sollen, mit der enormen Belastung umzugehen. Medical Tribune hat mit einer der Initiatoren des Projekts, Dr. Ute Brüne-Cohrs vom LWL-Universitätsklinikum Bochum, gesprochen.

Frau Dr. Brüne-Cohrs, was ist die Idee hinter KIDSDEM und wie ist das Projekt entstanden?

Ich bekam die Idee aus meiner klinischen Tätigkeit, in der immer wieder junge Erkrankte mit Angehörigen in Behandlung waren. Wenn ich dann mal nachgefragt habe, wie es den Kindern damit geht, hieß es meist „läuft ganz gut“. Aber ich dachte mir: Eigentlich kann es nicht wirklich gut laufen. Da unsere Klinik schon vorher mit der Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung Vinzenz gGmbH in einem ähnlichen Projekt – Kinder von Eltern mit psychischen Erkrankungen – zusammengearbeitet hatte, habe ich mich dorthin gewendet und die Idee für das Projekt vorgetragen. Gemeinsam mit der Alzheimergesellschaft Bochum wurde es dann entwickelt. Aktuell sind das LWL-Klinikum, die Vinzenz gGmbH und die Alzheimergesellschaft Bochum für das Projekt verantwortlich.

Was ist das Ziel des Projekts?

Wir wollen die Krankheit sozusagen „entmachten“. Wir hören oft von den Kindern und Jugendlichen, dass sich zu Hause alles nur noch um die Erkrankung dreht. Andererseits haben viele Angehörige einen Loyalitätskonflikt nach außen. Sie trauen sich nicht, im Freundeskreis oder in der Schule darüber zu reden, manche dürfen es auch nicht. Diese Problematiken wollen wir angehen.

Wie viele Kinder und Jugendliche haben bisher schon an dem Projekt teilgenommen?

Geplant war das Ganze ursprünglich für sechs Kinder. In Summe hatten wir jetzt, mit Fluktuation, zehn Teilnehmer im Alter zwischen 13 und 21 Jahren.

Gemeinsam für Demenzangehörige

KIDSDEM ist ein Kooperationsprojekt des LWL-Universitätsklinikums Bochum, der Jugendhilfeeinrichtung Vinzenz gGmbH Bochum und der Alzheimergesellschaft Bochum. Das auf drei Jahre angesetzte Projekt läuft seit November 2021 und wird vom Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen, den Landesverbänden der Pflegekassen und dem Verband der Privaten Krankenkassen finanziert.

Link: www.kidsdem.de

Wie kommen die Betroffenen in Kontakt mit Ihnen?

Den Startpunkt bilden die Eltern, die in Behandlung sind. Sie sprechen wir auf das Projekt an. Die Alzheimergesellschaft Bochum bietet eine Angehörigengruppe für die Partner von jung an einer Demenz Erkrankten an. Inzwischen haben wir aber auch über die Öffentlichkeitsarbeit und die Presse Zuspruch erhalten.

Wie groß ist die Bereitschaft der Eltern und Geschwister, am Projekt mitzuwirken?

Die Mehrzahl der Eltern steht dem Projekt sehr positiv gegenüber. Sie sind froh, dass sie und ihre Kinder Unterstützung erhalten. Bei den Geschwistern ist es ganz unterschiedlich: Manche gehen gerne mit, andere lehnen das völlig ab, vielleicht, weil sie die Problematik verdrängen.

Wie lange bleiben die Betroffenen im Projekt und wie geht es danach weiter?

Die Kinder und Jugendlichen sind ungefähr 18 Monate lang im Programm, in dieser Zeit finden wöchentliche Gruppentreffen statt. Aktuell gibt es noch alle vier bis sechs Wochen eine Nachbereitung.

Bieten Sie außerhalb der Gruppen konkrete Hilfestellungen für den Alltag oder Unternehmungen an?

Ja, die Teilnehmer haben auch außerhalb der Einrichtung schon einiges zusammen unternommen. Sie waren z.B. eine Woche gemeinsam auf der Insel Texel. Erholung gehört mit zum Konzept – die Kinder sollen sich selbst wieder spüren und erleben dürfen. Außerdem fühlen sie sich in der Gruppe nicht mehr so isoliert. Sie merken, dass es Altersgenossen gibt, die vom gleichen Problem betroffen sind.

Das Projekt läuft Ende 2024 aus. Weiß man schon etwas über die Zeit danach?

Wir wissen zwar noch nicht, wie, aber so viel steht fest: In irgendeiner Form soll es weitergehen. Wir würden das Projekt gerne verstetigen und auch multiplizieren. Zu diesem Zweck sind wir in der Entwicklung eines Manuals, das Interessierten in anderen Städten dabei helfen kann, etwas Ähnliches auf die Beine zu stellen.

Quelle: Medical-Tribune-Interview