Notfall oder Bequemlichkeit? Warum Menschen die 112 wählen

Autor: Nina Arndt

Mit der 112 lässt sich EU-weit einheitlich ein Notruf absetzen. Alle Anrufe laufen in der Leitstelle vor Ort ein, die den Rettungseinsatz koordiniert. Mit der 112 lässt sich EU-weit einheitlich ein Notruf absetzen. Alle Anrufe laufen in der Leitstelle vor Ort ein, die den Rettungseinsatz koordiniert. © Jenny Sturm – stock.adobe.com

Die Zahl der Notfalleinsätze steigt. Das belastet Rettungsstellen und Krankenhäuser. Doch die Bevölkerung scheint den Nutzen der 112 zu kennen. Woran scheitert es dann? Eine Studie aus Berlin liefert Antworten.

Immer mehr Menschen wählen die 112 – in Berlin passiert das bis zu 3.000-mal am Tag. Oft steckt eher Bequemlichkeit als ein Notfall dahinter, manchmal eine überzogene Anspruchshaltung. Mitbürger mit Migrationshintergrund nutzen die Nummer seltener.

Der Anteil an nicht akut lebensbedrohlichen Einsätzen der Rettungsdienste in Großstädten soll rund 60 % betragen. Eine repräsentative Umfrage in Berlin zeigt: Obwohl die meisten Hauptstadtbewohner wissen, wann man den Notruf nutzen soll, wählen ihn viele auch in einer unangemessenen Situation.

Für die Untersuchung befragte ein Team um Dr. Janosch Dahmen von der Ärztlichen Leitung des Rettungsdienstes Berlin zusammen mit Infratest dimap 1.002 Menschen. Die Teilnehmer wurden zufällig ausgewählt und gaben Auskunft zur Nutzung des Notrufs 112. Der Großteil der Befragten kannte die Nummer. Rund 58 % assoziierten den Notruf mit medizinischen Notfällen, 74 % mit der Feuerwehr. Nur 1 % konnte mit der Nummer nichts anfangen. Weniger geläufig war die 112 Menschen mit Migrationshintergrund. Von ihnen kannten sie nur ca. 4 %.

Über den Sinn und Zweck des Notrufs wussten die Hauptstädter zumindest theoretisch Bescheid. Etwa 89 % stimmten der Aussage zu, dass sie die Nummer nur bei Lebensgefahr wählen würden. Im Widerspruch dazu gaben rund 33 % an, dass man die 112 auch mal ohne akutes Problem anrufen dürfe, da man ja schließlich wie andere Menschen auch Steuern zahle. Von den über 65-Jährigen stimmten diesem Statement sogar 43 % zu, von den Menschen mit niedrigerem Bildungsstand ca. 54 %.

Rund ein Viertel der Befragten bejahte, dass die 112 immer erreichbar sei, der Hausarzt dagegen nachts und am Wochenende nicht zur Verfügung stehe, Taxis teuer seien und man im Krankenhaus lange warten müsse. Mit der 112 gehe es zudem schneller. Auch diese Einschätzung fand sich vor allem bei Älteren (36 %) und Personen mit niedrigerem formalem Bildungsniveau (43 %).

Alterung der Bevölkerung führt zu mehr Einsätzen
Den Notruf tatsächlich gerufen hatten bereits ca. 39 % der Befragten (44 % Frauen), wobei erneut eher Menschen mit einem niedrigeren Bildungsstand zum Telefon gegriffen hatten (52 % Volks- bzw. Hauptschulabschluss vs. 34 % Abitur oder Fachhochschulreife). In Haushalten mit mehreren Generationen war die 112 seltener gewählt worden (18 %). Auf die Frage nach Alternativen zum Notruf nannten rund 25 % der Befragten die 116 117, ca. 31 % den ärztlichen Bereitschaftsdienst/Notdienst und nur 3 % den Hausarzt.

Dr. Dahmen und Kollegen vermuten, dass der Notruf oft aufgrund fehlender anderer Möglichkeiten gewählt wird und fordern, die hausärztliche Versorgung zu stärken. Die Alterung der Bevölkerung und ein höheres Bewusstsein für Krankheiten führen per se zu mehr Einsätzen der Rettungsdienste. Man müsse daher mehr Alternativen zum Notruf schaffen und die Bevölkerung anschließend flächendeckend über die unterschiedlichen Möglichkeiten aufklären, so das Fazit der Autoren.

Quelle: Dahmen J et al. Notfall Rettungsmed 2024; 27: 42-50; DOI: 10.1007/s10049-021-00954-1