Epidemie Multimorbidität Was Betroffene am meisten brauchen
Multimorbidität und Multimedikation sind nicht zwangsläufig, aber durchaus häufig miteinander assoziiert. Insbesondere ältere Menschen sind mehrfach krank und multibehandelt, heißt es in der S3-Leitlinie der DEGAM und weiterer Fachgesellschaften. Dabei versteht man unter dem Begriff Multimedikation üblicherweise die dauerhafte Einnahme von mindestens fünf Pharmaka. Sie erhöht das Risiko für unangemessene Verordnungen und unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW). Paradoxerweise kann es durch eine Multimedikation auch zu einer Untertherapie kommen, weil bedeutsame Gesundheitsprobleme nicht angegangen werden.
Zur Sicherheit rät das Leitliniengremium, bei jeder Konsultation Anzahl und Dosierung der Medikamente zu erfragen („Pillcount“). Dabei fallen dann nicht indizierte, UAW-auslösende und miteinander interagierende Pharmaka auf. Diese sollten soweit möglich abgesetzt oder in der Dosis reduziert werden („Deprescribing“).
Auf psychosomatische Zusammenhänge achten
Außerdem empfehlen die Expertinnen und Experten für Allgemeinmedizin, während der Abklärung eines konkreten Konsultationsanlasses auf Anzeichen für bisher nicht bekannte chronische Erkrankungen zu achten. Zudem wird geraten, bei multimorbiden Patientinnen und Patienten mit somatischen Symptomen auch eine psychische Komorbidität (Depression, Angststörung etc.) differenzialdiagnostisch in Betracht zu ziehen.
Wichtig ist das opportunistische Screening auf ein erhöhtes Sturzrisiko. Am besten befragt man multimorbide Seniorinnen und Senioren mindestens einmal im Jahr, ob sie ein solches Ereignis in den vergangenen zwölf Monaten erlebt haben. Falls dies ein- oder mehrmals der Fall war, ist eine Kontrolle der Ganggeschwindigkeit indiziert. Ebenfalls jährlich sollte man vielfach Erkrankte nach chronischen Schmerzen fragen, die sie im Alltag beeinträchtigen. Finden sich solche, rät die Leitlinie, einmal im Quartal den Therapieerfolg zu überprüfen.
Patienten mit hohem Sturzrisiko können von schützenden Wohnraumanpassungen profitieren. So lassen sich etwaige Umgebungsrisiken beseitigen, die für derartige Ereignisse prädestinieren. Auch die körperliche Kondition zählt: Als günstig hat sich ein multimodales Training erwiesen. Geübt werden Gleichgewicht, Kraft, Flexibilität und Funktion. Es sollte sturzgefährdeten älteren Menschen ausdrücklich empfohlen werden.
Etwa ein Drittel der Senioren leidet an unkontrolliertem Harnverlust, Frauen häufiger als Männer. Neben Einschränkungen der sozialen und sexuellen Aktivitäten drohen dadurch auch Depressionen. Multimorbide Patientinnen mit Harninkontinenz (Drang-, Stress- oder gemischt) können von einem Beckenbodentraining profitieren. Es sollte allein oder in Kombination mit Strategien zur verbesserten Blasenkontrolle und Selbstüberwachung empfohlen werden.
Zudem wird das Leben im Alter häufig durch ein gestörtes Sehvermögen erschwert, etwa 90 % der über 70-Jährigen leiden an einer Katarakt, der häufigsten Ursache für einen Sehverlust. Deshalb rät die Leitlinie multimorbiden Seniorinnen und Senioren zu regelmäßigen augenärztlichen Untersuchungen. Auch die unbehandelte Schwerhörigkeit führt nicht selten zu sozialer Isolation, Autonomieverlust, Ängsten und Depressionen. Trotz dieser gravierenden Folgen wird diese Störung im Senium oft nicht bemerkt. Zur rechtzeitigen Diagnose sollte älteren Menschen mit Multimorbidität deshalb ein Hörtest mit anschließender Bereitstellung von Hörgeräten angeboten werden.
Quelle: S3-Leitlinie „Multimorbidität – Living Guideline“; AWMF-Register-Nr. 053-047; www.awmf.org