Funktionelle kognitive Störungen Wenn man denkt, nicht mehr denken zu können
Sogenannte funktionelle kognitive Störungen – subjektive kognitive Beeinträchtigungen ohne organische Ursache – kommen enorm häufig vor. Sie sind nicht nur eine klassische Begleiterscheinung von psychiatrischen Erkrankungen wie Depression und Psychose, sondern können auch infolge von Stress und innerer Ablenkung entstehen. Gemein ist beiden Typen eine verminderte Fähigkeit, konzentriert und ausdauernd zu denken, erklärte Prof. Dr. Klaus Schmidtke, Ortenau Klinikum Offenburg. Zu unterscheiden sind dabei Störungen von Neu- und Altgedächtnis (Verarbeitung neuer Inhalte, Abruf alten Wissens) sowie Störungen des Arbeitsgedächtnisses im Sinne von Denk- und Konzentrationsstörung.
Eine Statistik der Offenburger Gedächtnisambulanz weist aus, dass von 132 Patienten ohne relevante organische Hirnerkrankung mehr als die Hälfte solche rein funktionellen kognitiven Störungen zeigte. „Es gibt viele Gründe, die Menschen veranlassen zu glauben, dass etwas mit ihrem Gehirn nicht stimmt. In letzter Zeit ist noch Post-COVID dazugekommen“, so der Neurologe und Geriater. „Die Patienten sind oft stark derangiert, können wichtige Teile ihres Lebens nicht mehr bewältigen.“
Der Verdacht auf eine funktionelle kognitive Störung liegt nahe, wenn eine Diskrepanz zwischen starken subjektiv berichteten Problemen und normalen oder nur leicht reduzierten Testbefunden besteht. „Diese Patienten werden nie von Angehörigen in die Ambulanz gebracht, sie kommen immer selbst und zeigen ein recht stereotypes Beschwerdeprofil“, berichtete Prof. Schmidtke. Typisch ist ferner, dass Alltagskompetenz und Orientierung erhalten geblieben sind. Zugrunde liegen in der Regel psychosoziale Belastungen, die zu Stress führen. Dieser stört Aufmerksamkeit und Gedächtnis, was Fehlleistungen verursacht, die den Patienten Angst machen und dadurch – im Sinne eines Circulus vitiosus – die Probleme verstärken. Das gilt umso mehr, je stärker die Betroffenen geistige Leistungen als zentral für ihr Selbstkonzept wahrnehmen. Prädisponierend wirken Persönlichkeitsfaktoren wie reduzierte Stressresistenz, Perfektionismus und übergenaue Selbstbeobachtung.
Zur Diagnose funktioneller kognitiver Störungen haben die Offenburger Kollegen eine Symptomcheckliste entwickelt.
Checkliste funktionelle Gedächtnisstörung
- Vergessen von Terminen, Gesprächsinhalten, Plänen (binnen Stunden bis Tagen)
- Nicht-Aufnehmen von Nachrichten, Lektüre etc.
- Passagere Blockierung von Wissen (z. B. Namen, Telefonnummern)
- Flüchtigkeitsfehler, Fehlleistungen und Blockierungen bei Routinetätigkeiten
- Wortfindungsstörungen
- Vergessen von Vorhaben auf dem Weg zur Ausführung
- Vergessen von Inhalten von Gesprächen kurz nach deren Ende
- Zerstreutheit, Geistesabwesenheit
- „Fadenriss“-Erlebnisse
- Fluktuation: Wechselnd starke Beschwerdeintensität je nach Belastung und Befinden
Die einzelnen Phänomene kennt wohl jeder aus eigenem Erleben. Zum Problem werden diese Dinge, wenn sie in kurzer Zeit deutlich zunehmen. Die Liste ist in einer Studie mit knapp 70 Patienten validiert worden, die über alltagsrelevante Gedächtnisprobleme klagten, ohne dass sich eine organische Erkrankung, eine Depression oder objektive kognitive Leistungseinbußen nachweisen ließen. Patienten mit funktionellen Störungen erreichten doppelt so viele Punkte in der Checkliste wie Patienten mit MCI. Die Symptomatik blieb bei den meisten über bis zu drei Jahre stabil.
„Wissen macht nicht frei: Wenn man den Patienten erklärt, was vor sich geht, heißt das nicht, dass sie gesund werden“, betonte Prof. Schmidtke. In seiner Klinik wird Betroffenen ein multimodales Gruppentraining angeboten, zu dem u. a. Psychoedukation, Stressbewältigungs- und Entspannungstraining, Gedächtnisstrategien und Förderung der Selbstwirksamkeit gehören. Damit lasse sich die subjektive Einschätzung der Leistungsfähigkeit substanziell verbessern, so Prof. Schmidtke.
Kongressbericht: Neurowoche 2022