Chronische Erkrankungen WHO nimmt politische Entscheidungsträger in die Pflicht

Autor: Antje Thiel

Der Leitfaden soll der Schulung die Richtung weisen. Der Leitfaden soll der Schulung die Richtung weisen. © fotogestoeber – stock.adobe.com

Nichtübertragbare bzw. chronische Erkrankungen sind in Europa mittlerweile für 90 % aller Todesfälle verantwortlich. Dennoch sind die meisten Gesundheitssysteme weiterhin auf die Behandlung von Menschen mit akuten Erkrankungen ausgerichtet. Ein neuer Leitfaden der WHO soll den Fokus auf die Stärkung des Selbstmanagements mithilfe therapeutischer Schulungsprogramme lenken.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat einen neuen Leitfaden zur therapeutischen Patientenschulung veröffentlicht, die Menschen mit chronischen Erkrankungen befähigen und unterstützen soll, ihre Gesundheit selbst zu managen und dabei auf eigene Ressourcen zurückzugreifen. Denn schließlich verbringen Menschen mit Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder chronischen Atemwegserkrankungen nur wenig Zeit mit ihren Behandlungsteams und müssen ihren Alltag eigenständig bewältigen.

Für Gesundheitsfachkräfte, die hierzulande in der Diabetologie tätig sind, ist das Konzept per se nichts Neues. Hier sind Schulungen seit Langem integraler und bewährter Bestandteil der Behandlung. In anderen Ländern hingegen sind Schulungsprogramme für chronisch Kranke zum Teil noch weit weniger etabliert.

Zentrale Themen des Leitfadens sind die praktische Ausgestaltung und Bereitstellung von Schulungsprogrammen, aber auch theoretische Erkenntnisse rund um die Patientenaufklärung und gelungene Kommunikation. Von deutscher Seite war Professor Dr. Karin Lange, bis 2023 Leiterin der Forschungs- und Lehreinheit Medizinische Psychologie an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH), an der Ausarbeitung des WHO-Leitfadens beteiligt.

In anderen Ländern geht es weniger bürokratisch zu

Sie konnte nicht nur ihre Expertise in der Entwicklung von Diabetes-Schulungsprogrammen, sondern auch ihre Erfahrungen mit der Hannoverschen integrierten berufsorientierten und adaptiven Lehre („HannibaL“), dem 2005 eingeführten Modellstudiengang Medizin an der MHH, einbringen. Ein wesentlicher Aspekt der medizinischen Ausbildung in HannibaL sind der frühe Kontakt mit Patient*innen und entsprechende Kommunikationstrainings in Kleingruppen. „Bei HannibaL können Studierende mit Schauspielern Situationen üben, damit sie nicht nur aus dem Buch lernen, sondern praktisch trainieren – unter anderem, wie man Patienten Kompetenzen für das Selbstmanagement vermittelt“, so Prof. Lange.

Der WHO-Leitfaden enthält viele Fallbeispiele, die von den Autor*innen aus ihren jeweiligen Ländern zusammengetragen wurden und die konkrete Herausforderungen samt praktischen Lösungsansätzen illustrieren. Und obwohl Prof. Lange das hiesige Schulungssystem im Rahmen der Disease-Management-Programme (DMP) grundsätzlich positiv bewertet, stellte sie im Austausch mit ihren internationalen Kolleg*innen auch fest: „Kleinere Länder wie Schweden oder Slowenien sind nicht so bürokratisch wie wir hier. Dort hat man einen besseren Blick für die Realität. Die machen einfach und müssen ihre Zeit nicht mit unendlich vielen Anträgen vergeuden, fünfmal ausdrucken, an eine Behörde schicken und dann zwei Jahre warten, bis endlich einmal etwas passiert.“
 

Was sagt der G-BA?

Über die Aufnahme von Schulungsprogrammen in die DMP wacht der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), der entsprechende Unterausschuss wird von Karin Maag geleitet. Angesprochen auf die langen Zertifizierungs- und Zulassungsprozesse gibt sie zu: „Wir sehen, dass vielleicht die eine oder andere Stelle überregulierend tätig geworden ist.“ Doch mit Blick auf die jüngst erfolgte Zulassung von Videoschulungen und auch einzelnen digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA), die zulasten der GKV verordnet werden können, hält sie Menschen mit Diabetes in puncto Schulungen für prinzipiell gut versorgt. Handlungsbedarf sieht Maag eher an anderer Stelle: „Es gibt mehr chronische Erkrankungen als DMP, da können wir uns schon noch ein bisschen strecken.“

Denn der Weg bis zur Zertifizierung und Zulassung eines Schulungsprogramms durch das Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS) ist lang. So erhielt z. B. erst Ende Februar 2024 und damit rund zehn Jahre nach der ersten konzeptionellen Idee das Pumpen-Schulungsprogramm INPUT die Zertifizierung für den Einsatz im Rahmen der Diabetes-DMP. Das CGM-Schulungsprogramm SPECTRUM hingegen erfülle bereits seit fünf Jahren die formalen Anforderungen des BAS – doch eine Zulassung und damit auch Finanzierung durch die GKV sei weiterhin nicht in Sicht, kritisiert Prof. Lange. Von dem WHO-Leitfaden erhofft sie sich daher einen Impuls auch in Richtung der Krankenkassen, die Kosten für evaluierte Schulungsprogramme zu übernehmen.