Cannabinoide Wirkt nicht nur entspannend

Autor: Dr. Susanne Meinrenken

Mit der Zunahme des Konsums von synthetischen Cannabinoiden steigt auch die Zahl der neuropsychiatrischen Notfälle durch Intoxikation. Mit der Zunahme des Konsums von synthetischen Cannabinoiden steigt auch die Zahl der neuropsychiatrischen Notfälle durch Intoxikation. © ver0nicka – stock.adobe.com

Der Konsum von Cannabinoiden – sowohl als natürliche Extrakte der Cannabispflanze als auch in Form von synthetisch hergestellten Wirkstoffen – steigt an. Damit nimmt auch die Relevanz von Nebenwirkungen, Intoxikationen und Entzugssyndromen in der täglichen Praxis zu. 

Schaut man sich die Zahlen von 2018 an, konsumierten 1,6 % der 12- bis 17-Jährigen regelmäßig Cannabinoide, d.h. mehr als zehnmal im Jahr. 10 % hatten die Droge schon einmal ausprobiert. Unter 18- bis 25-Jährigen waren 6,9 % regelmäßige Konsumenten und fast jeder Zweite hatte zumindest schon Kontakt mit Cannabinoiden. 

Gerade bei Adoleszenten geht früh einsetzender Cannabinoidkonsum mit einem erhöhten Risiko für messbare strukturelle Hirnveränderungen und dauerhafte kognitive Beeinträchtigungen einher, warnt Dr. Maximilian Gahr. Chronischer Konsum ist assoziiert mit psychischen Auffälligkeiten und verschiedenen organischen Erkrankungen. Zudem müssen sich Ärzte mit akuten neuropsychiatrischen sowie schweren kardialen, neurologischen Effekten der Substanzen bzw. Intoxikationssyndromen auseinandersetzen. Für die hier dargestellten Folgen des Cannabinoidkonsums scheinen insgesamt häufiger synthetische Substanzen verantwortlich zu sein. 

Ruhe vom Alltag durch gestörte Wahrnehmung?

Wer Cannabinoide zu sich nimmt, aktiviert damit seine Cannabinoidrezeptoren 1 und 2, was in der Folge unter anderem den Sympathikus aktiviert und den Parasympathikus hemmt. Auf neuropsychiatrischer Ebene kann es dadurch zu beeinträchtigter Kognition, Sedierung, veränderter Affektivität (z.B. Angst, Euphorie), Wahrnehmungsstörungen bis hin zu Psychosen, Paranoia und Halluzinationen oder auch Ich-Erlebnisstörungen, wie einer Derealisation kommen. Häufige körperliche Begleiterscheinungen umfassen Mundtrockenheit, Appetitsteigerung, Tachykardie, Dyspnoe, konjunktivale Injektion, Miosis, Sehstörungen, Schwindel, Übelkeit und Emesis. In einer Auswertung aller europäischen Daten aus Notaufnahmen zwischen 2014 und 2019 führte Angst mit 28 % die Liste der häufigsten Beschwerden an; es folgten u.a. Erbrechen, Agitation, subjektiv empfundenes Herzrasen, Bewusstseinsstörungen, akute Psychosen, Halluzinationen, Brustschmerz und Anfälle. 

Der Großteil der Cannabinoidintoxikationen verläuft unkompliziert. Dennoch kommt es regelmäßig zu neuropsychiatrischen Notfällen (Psychose, Delir), die eine stationäre psychiatrische und/oder intensivmedizinische Therapie erfordern, betonen die Experten. Diese erfolgt meist symptomatisch und supportiv. Akute psychiatrische Beschwerden können auch Folge eines Entzugssyndroms sein, das aber meist eher leicht ausgeprägt ist. 

Man geht derzeit sowohl nach akuten Intoxikationen als auch bei chronischem Konsum insbesondere bei Jugendlichen von einer höheren Suizidalität und mehr selbstverletzendem Verhalten aus. Gesicherte Daten für diese Zusammenhänge liegen vor allem für den chronischen Gebrauch vor, insbesondere für synthetische Substanzen wie Blue Bombay oder Spice. 

Auch somatische Beschwerden nach Cannabinoidkonsum erfordern regelmäßig ein akutes Eingreifen. Insbesondere bei regelmäßigem Rauchen von Cannabinoiden kann ein Cannabinoid-Hyperemesis-Syndrom (CHS) auftreten. Diese Menschen leiden immer wieder an stereotyp wirkender Übelkeit mit Erbrechen und Bauchschmerzen, die schlecht auf die übliche Medikation, aber gut auf eine warme Dusche anspricht.

Wer Cannabis raucht, weist oft deutliche pulmonale und kardiale Veränderungen auf – allerdings andere als bei Zigarettenrauchern. Das Risiko einer schweren Bronchitis steigt bereits nach geringen gerauchten Cannabismengen, aber es zeigen sich im Gegensatz zum Tabak keine langfristigen Auswirkungen auf das COPD-Risiko

Der Cannabinoidkonsum erhöht unter anderem das Risiko für Herzinfarkt, KHK, Vorhof- und Kammerflimmern mit der potenziellen Folge eines plötzlichen Herztodes oder Schlaganfalls. Eine Cannabisgebrauchsstörung ist zudem mit akuten peripheren Durchblutungsstörungen assoziiert. Dass synthetische Substanzen kardiotoxischer scheinen, liegt in diesem Fall möglicherweise an Verunreinigungen bei der Herstellung und der höheren Affinität der synthetischen Wirkstoffe zum Cannabinoidrezeptor 1.

Dementsprechend gibt es für synthetische Substanzen mehr Belege für Zusammenhänge zwischen Cannabinoidkonsum und häufigeren plötzlichen Todesfällen, u.a. infolge von Multiorganversagen nach Intoxikation oder auch Suizid. Solche Todesfälle nahmen einer Studie aus England zufolge in den letzten Jahren zu. Bei Gebrauch von „natürlichem“ Cannabis lassen sich letale Folgen, z.B. ein plötzlicher Herztod oder Suizid, deutlich seltener beobachten. 

Vor dem Hintergrund des zunehmenden Konsums von Cannabinoiden werden sich auch Ambulanzen immer häufiger mit solchen Patienten konfrontiert sehen. Wer in Notfallsituationen auf Patienten mit entsprechenden Beschwerden trifft, sollte den Cannabinoidkonsum als Ursache bzw. eine Cannabinoidintoxikation als Differenzialdiagnose auf dem Zettel haben.

Quelle: Gahr M. Nervenheilkunde 2023; 42: 200-206; DOI: 10.1055/a-1953-2616