Gehirn trifft Technik Zerebrale Netzwerkstörungen erkennen und gezielt manipulieren
Die Symptome vieler neurologischer bzw. psychiatrischer Erkrankungen werden heute als gestörte Aktivität komplexer neuronaler Netzwerke verstanden. Dies erklärt, warum einfache pharmakologische Therapien oft nicht greifen, sagte Prof. Dr. Jens
Volkmann von der Neurologischen Klinik am Universitätsklinikum Würzburg. Um irgendwann gezielt intervenieren zu können, analysieren Neurowissenschaftler derzeit große Datenmengen und versuchen, Symptommuster neurologischer Erkrankungen bestimmten zentralen Netzwerkverbindungen, Regelkreisen und Funktionen im Gehirn
zuzuordnen.
Mit der tiefen Hirnstimulation (THS) werden bereits heute motorische Netzwerkstörungen behandelt. Allerdings steht man vor dem Problem, dass es sich bei diesen Störungen um dynamische, situationsbezogene Prozesse handelt. Beispielsweise können einige Parkinsonpatienten kaum laufen, setzt man sie aber aufs Fahrrad, zeigen sie völlig normale Bewegungsabläufe, berichtete Prof. Volkmann. Benötigt werden daher unterschiedliche Stimulationsmuster.
Eine Option auch nach Schlaganfällen?
Eine neue THS-Technik arbeitet z.B. bidirektional. Mittels Messung lokaler Feldpotenziale werden ständig Informationen über den Zustand des Gehirns ausgelesen und die Stimulation entsprechend adaptiert. Um solche Closed-Loop-Systeme zu entwickeln, müssen für die verschiedenen Krankheitsbilder Biomarker identifiziert und passende Stimulationsparameter gefunden werden. Entsprechende Forschungsprojekte zielen u.a. auf Depressionen, Suchterkrankungen, Bewegungs- und Wahrnehmungsstörungen sowie Kognitionsdefizite. Auch nach Schlaganfällen könnten sich durch die neue Technik Therapieansätze ergeben, meinte Prof. Volkmann.
Schon immer hat man in der Hirnforschung versucht, vom Ort einer Läsion auf die Funktion des jeweiligen Hirnareals zu schließen, erklärte Prof. Dr. Michael Fox von der Harvard Medical School in Boston, USA. Heute geht man einen Schritt weiter, indem man z.B. bei ungewöhnlichen Symptomen nach gemeinsamen Mustern in komplexen Netzwerken sucht. Solche Überlappungen im „Lesion Network Mapping“ können dann Aufschluss über ansonsten sehr mysteriöse neurologische Symptome, etwa ein plötzlicher Verlust der Religiosität oder neu aufgetretenes kriminelles Verhalten, geben.
Brain-Computer-Interfaces sind schon im Einsatz
Ein weiteres Feld ist das sogenannte „Gehirndoping“ durch Neurotechnologie. Grundlage sind Brain-Computer-Interfaces (BCI), die passiv die Hirnaktivität auslesen und sie aktiv beeinflussen, erklärte Prof. Dr. Florian Mormann von der Klinik für Epileptologie der Universität Bonn. Passive BCI-Formen werden u.a. bei der Klassifizierung von Schlafstadien, der Hirntoddiagnostik oder der Anfallsdetektion genutzt. Aktive BCI verwendet man heute schon bei Cochlear-Implantaten und der THS bei Parkinson, Depressionen und Epilepsie. Auch gibt es Closed-Loop-Systeme, die z.B. bei Epilepsie und Tetraplegie erprobt werden. Bei Epilepsie könnte ein drohender Anfall anhand bestimmter Muster erkannt und dann im Vorfeld gestoppt werden. Noch sind die Erfolgsraten nicht besonders hoch, räumte Prof. Mormann ein.
Mit dem Neuro-Enhancement will man eine bestimmte Hirnleistung gezielt stimulieren. Um Erfolg zu haben, müsste man allerdings solche Prozesse erst einmal mechanistisch und detailliert verstehen, sagte der Kollege. Die Wissenschaft stehe hier noch ganz am Anfang, was die widersprüchlichen Ergebnisse erkläre.
Noch weiter von einer realistischen Option entfernt ist das „Gedankenlesen“ mittels moderner Technik. Sollte es jedoch eines Tages möglich sein, werden viele ethische Fragen zu klären sein. Dazu gehört der Schutz der eigenen Gedanken vor dem Zugriff Dritter, aber auch die Frage, inwieweit man noch für das eigene Handeln verantwortlich ist, wenn dieses von außen beeinflusst wurde.
Pressebericht: 66. Jahrestagung der DGKN*
* Deutsche Gesellschaft für Klinische Neurophysiologie und Funktionelle Bildgebung