Kommentar Aus Schaden wird man klug?
Wie konnte es nur dazu kommen? Anderthalb Jahre nach Ausbruch der Pandemie werden in Deutschland trotz ausreichend vorhandener Impfdosen und Schutzvorkehrungen neue Höchststände an SARS-CoV-2-Infektionen gemeldet. Es ist wieder der Katastrophenfall eingetreten, weil Krankenhäuser an ihre Kapazitätsgrenzen stoßen. Leit-Experte Prof. Dr. Christian Drosten befürchtet 100.000 neue Coronatote und sagt: „Wir sind schlimmer dran als vor einem Jahr.“ Was haben wir eigentlich aus Übersterblichkeit, AHA-Regeln, Lockdowns und der Impfkampagne gelernt?
Dass es Mattköpfe gibt und die leider manchmal auf den falschen Posten sitzen, weiß jeder. Die Pandemie hat dazu geführt, dass man sie nun auch im eigenen Umfeld erkennt: im Disput mit Familie, Nachbar- und Kollegenschaft oder dem Freundeskreis. Und das sogar wechselseitig. Ja, das war ein Kalauer. Doch er deutet auf ein Grundproblem hin: die Spaltung der Gesellschaft, die sich mittlerweile auch in aberwitzigen Hasstiraden und sogar Gewalt gegen professionelle Helfer manifestiert. Sie soll nicht noch weiter vergrößert werden.
Hier eine politische Balance zu finden zwischen Maßnahmen, die die Freiheitsrechte wahren und zugleich das solidarisch finanzierte Gesundheitswesen funktionsfähig halten, hat zu dieser merkwürdigen Phase geführt: Die geschäftsführend tätige Bundesregierung wirkt lahm. Die Ampel-Verhandler schießen aus der Hüfte. Das Agieren der Bundesländer ist unübersichtlich. Kommunale Impfaktionen haben Anekdotencharakter. Werden Gratistests und mehr 2G reichen?
Die Vorhersagen der Experten haben jedenfalls gestimmt: Weniger als 70 % „vollständig“ Geimpfte bis Anfang November haben für eine Herdenimmunität nicht ausgereicht. Ein Freedom Day vor Allerheiligen wäre zu früh gekommen. Jetzt mehren sich die Stimmen der Befürworter einer gesetzlichen Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen/Multiplikatoren. Nach der Ärzteschaft sind auch Ethikrat und Leopoldina auf diese Linie eingeschwenkt. Eine solche Impfpflicht könnte Beschäftigte aus Protest aus ihrem Beruf treiben. Doch die Alternative, dass deren Kolleginnen und Kollegen wegen Überlastung aufgeben, ist auch keine. Das dürften wir nach vier Pandemiewellen doch gelernt haben.
Michael Reischmann
Ressortleiter Gesundheitspolitik