Notfallnummern Bahn verpasst? Kühlschrank leer? Herz gebrochen?
Mit einer Informationskampagne hoffen die KV und die Berliner Feuerwehr, die zunehmende unnötige Inanspruchnahme der Notfallversorgung in der Hauptstadt minimieren zu können. „Die vergangenen Jahre haben gezeigt, dass die Notfallnummern 112 und 116 117 in unserer Stadt zu oft gewählt werden, obwohl keine lebensgefährliche Erkrankung bzw. akute gesundheitliche Beschwerden vorliegen“, sagt Dr. Burkhard Ruppert, Chef der KV Berlin. Die Feuerwehr und der Ärztliche Bereitschaftsdienst (ÄBD) der KV seien deshalb überlastet. Es gebe regelmäßige Ausnahmezustände und lange Wartezeiten bei der ÄBD-Hotline und am Ende auch überlastetes Personal: „Auch unsere Ressourcen sind endlich. Wenn wir weiterhin für die Menschen da sein wollen, die unsere Hilfe wirklich benötigen, müssen wir alle gemeinsam mit den vorhandenen Ressourcen besser umgehen“, so der KV-Chef.
Bei leichten Beschwerden in die Hausapotheke schauen
2020 rückte die Berliner Feuerwehr alle 67 Sekunden zum Einsatz aus, in 84,4 % der Fälle handelte es sich um einen medizinischen Notfall. Nicht selten werden die Retter aber auch zu Bagatellfällen gerufen, die keiner sofortigen Hilfe benötigen, darunter Hautausschläge und schon länger andauernde Kopf- und Rückenschmerzen. Die „Berliner Zeitung“ listete 2022 einige kuriose Fälle auf: Ring geht nicht vom Finger, seit mehreren Tagen Schmerzen im Bein, kleiner Zeh angeschlagen, schlafender Obdachloser liegt vor dem Geschäft und der Besitzer stört sich daran.
Modellprojekt im Ostseeland
Der Rettungsdienst in Mecklenburg-Vorpommern verzeichnete in den vergangenen Jahren ebenfalls steigende Einsatzzahlen. Auch hier besteht das gleiche Problem wie in Berlin, wie Gesundheitsministerin Stefanie Drese erklärt: „Bei plötzlich auftretenden oder akuten Beschwerden wählen viele Patientinnen und Patienten aus Unsicherheit zunächst den Notruf, dabei könnte in vielen Fällen auch der ärztliche Bereitschaftsdienst beraten und die passende Versorgung veranlassen.“ Mecklenburg-Vorpommern verzeichnete laut Ministerium 2021 über 188.000 Rettungseinsätze und damit rund 5.600 mehr als im Vorjahr. Bis auf eine Ausnahme im ersten Pandemiejahr 2020 mit 182.000 Einsätzen sei die Zahl der Einsätze in den vergangenen fünf Jahren kontinuierlich gestiegen.
Deshalb wird in den nächsten drei Jahren eine gemeinsame Disponierung des Rettungsdienstes und des ÄBD außerhalb der Sprechstundenzeiten erprobt. Die erste Modellregion bilden die Landkreise Vorpommern-Rügen und Vorpommern-Greifswald, die zweite der Landkreis Rostock gemeinsam mit der Hansestadt Rostock. In den sprechstundenfreien Zeiten sollen alle bei der 112 und 116 117 eingehenden Anrufe an zentraler Stelle landen. Speziell geschultes Personal entscheidet dann über das weitere Vorgehen. 1,2 Millionen Euro lässt sich das Land das Projekt kosten.
Auf ihren Webseiten, auf YouTube und in anderen Medien erklären KV und Feuerwehr deshalb, welche Hilfekanäle wann zu wählen sind: Herz gebrochen? Ruf den besten Freund an. Bahn verpasst? Ruf dir ein Taxi. Kühlschrank leer? Ruf den Pizzaservice an. Krank? Ruf die Hausarztpraxis an. Nicht bis morgen warten? Ruf 116 117 an. Erklärt wird in diesem Kampagnenvideo auch, wie der Bereitschaftsdienst der KV arbeitet und wann die 112 der richtige Adressat ist: „Ein Sturz aus großer Höhe, Bewusstseinsverlust, Atemnot oder Herzprobleme bei bekannten Vorerkrankungen sowie bei starker Blutung aufgrund von gravierenden Verletzungen – all das sind Anzeichen für lebensgefährliche Situationen, in denen Sie oder eine andere Person sofort Hilfe brauchen.“ Bei leichten Beschwerden helfe auch erst einmal der Blick in die Hausapotheke, heißt es ermunternd.
Laut KV ist die Zahl der angenommenen erfolgreichen Anrufe bei der ÄBD-Hotline von 178.000 im Jahr 2020 auf 263.000 im vergangenen Jahr gestiegen. Registriert wurden 360.000 Anrufversuche. Die Wartezeit für die Anrufenden beträgt im Schnitt 12:33 Minuten, 2020 waren es acht Minuten. 50 medizinisch ausgebildete Disponenten arbeiten im ÄBD in Berlin, verteilt auf drei Schichten. Zudem sind aktuell 195 Ärztinnen und Ärzte für den fahrenden ÄBD sowie 46 für den telefonischen Beratungsdienst registriert. Offenbar deckt dies den Bedarf aber immer noch nicht.
Kontraproduktive Abgrenzung innerhalb der Notversorgung
Die Überlastung des Berliner ÄBD wirkt sich auch auf eine andere Dienstleistung aus, die bis Januar noch vielen Versicherten angeboten werden konnte: die Vermittlung von Krankentransportleistungen. Seit Ende Januar ist der Service eingestellt, weil die Disponenten für die eigentlichen ÄBD-Aufgaben gebraucht werden. Nachfragen der KV bei Krankenkassen und Innenverwaltung, wohin die Versicherten, die einen Krankentransport benötigen, weitergeleitetet werden können, sind bisher unbeantwortet geblieben. Die Feuerwehr darf laut Innenverwaltung auch nur noch den Krankentransport übernehmen, wenn den kein Krankentransportunternehmen eigenständig durchführen kann.
Betroffen von der Einschränkung sind laut KV etwa 80 % der bisher jährlich vermittelten 17.000 Patienten. Der KV-Vorstand spricht von Kompetenzgerangel und fordert die Politik auf zu handeln: „Wir würden es begrüßen, wenn die Kompetenzen im Bereich Rettungsdienst, Krankentransporte sowie der stationären und ambulanten Versorgung in einer Senatsverwaltung zusammengefasst werden, weil die bisherige Abgrenzung eher kontraproduktiv ist, wie man aktuell sieht.“
Medical-Tribune-Bericht